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HBS Böckler Impuls

Armut: Im toten Winkel des Sozialstaats

Ausgabe 01/2006

Millionen Bedürftige leben in Deutschland ohne staatliche Hilfe. Eine Studie zeigt: Die Dunkelziffer der Armut ist in Deutschland fast so hoch wie die erfasste Zahl. Hauptursachen sind Fehlinformation und Angst vor Stigmatisierung.

Die verdeckte Armut erreicht in Deutschland fast die Größenordnung der bekämpften. Auf drei Empfänger von Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt kommen "mindestens zwei, eher drei Berechtigte", die sich nicht beim Amt melden. Lösen diese Armen ihre Ansprüche ein, müssten die Sozialämter noch mal ein Drittel bis zur Hälfte mehr zahlen. Die Armutsforscher Irene Becker und Richard Hauser haben für ihre Modellrechnung drei große Haushaltsstichproben ausgewertet und auf dieser Basis die verdeckte Armut für das Jahr 1998 kalkuliert. Ergänzende Auswertungen zeigen: Die Zahlen haben sich bis 2003 kaum verändert.

Als arm definieren die Forscher hier jene, die nicht über das gesetzlich festgelegte Existenzminimum verfügen. Etwa 40 bis 50 Prozent der Berechtigten fielen demnach durch das unterste Auffangnetz der Sozialhilfe. Die ausländische Bevölkerung scheint deutlich überproportional von verdeckter Armut betroffen zu sein.

Scham, Stolz, Fehlinformationen - die Forscher machen vielfältige Gründe aus, warum Bedürftige auf ihren Anspruch verzichten. Zwei wiegen besonders schwer:

Unwissenheit: Mehr als die Hälfte der verdeckt Armen ging davon aus, Sozialhilfe zurückzahlen zu müssen. Dass auch Beschäftigte Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe hatten, war vielen nicht bekannt. Die Hartz-Gesetze dürften dieses Informationsdefizit vergrößert haben: "Die Working Poor dürften sich noch seltener als anspruchsberechtigt sehen als vor der Reform - denn sie sind ja nicht arbeitslos."

Stigmatisierungsängste: Verdeckt Arme waren weniger bereit als Sozialhilfeempfänger, Unannehmlichkeiten auf Ämtern zu erdulden. Die Wahrnehmung von Stigmata sei für einen beträchtlichen Teil ausschlaggebend für den Verzicht. Entsprechend geringer fällt der Anteil verdeckt Armer unter Alleinerziehenden aus, deren Bedürftigkeit mehr Verständnis entgegengebracht wird.

Zur Bekämpfung verdeckter Armut empfehlen die Forscher: Mehr Informationen, aufsuchende Sozialarbeit und Vorsicht mit stigmatisierenden Behauptungen über den angeblich verbreiteten "Missbrauch" des Wohlfahrtsstaates.

  • Nicht alle Hilfsbedürftigen holen sich auch ihre Hilfe ab. Deswegen gibt es verdeckte Armut. Zur Grafik

Irene Becker, Richard Hauser: Dunkelziffer der Armut, edition sigma, Berlin 2005.
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