Quelle: HBS
Böckler ImpulsMindestlohn: Höhere Löhne, mehr Jobs
Der Mindestlohn nutzt Millionen Beschäftigten. Vor allem in klassischen Niedriglohnbranchen sind die Verdienste kräftig gestiegen. Für eine spürbare Anhebung der Untergrenze ab 2017 gibt es gute Argumente.
Bereits ein Jahr nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zeigt sich: Die neue Untergrenze hat das Lohngefüge verändert. Dabei haben vor allem weniger gut qualifizierte Arbeitnehmer aufgeholt – anders als in den Vorjahren, in denen besser Qualifizierte die größten Gewinne erzielten. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse des WSI. Die Lohnentwicklung sei „wesentlich ausgeglichener“ geworden, heißt es in dem Report. Der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hat der Mindestlohn laut WSI unter dem Strich nicht geschadet.
Auch wenn sich bislang noch nicht exakt sagen lasse, wie viele Menschen letztendlich vom Mindestlohn profitiert haben, deuteten überdurchschnittlich hohe Steigerungen in klassischen Niedriglohnbranchen auf „erhebliche Effekte“ hin. Potenziell betroffen seien zwischen 4,8 und 5,4 Millionen Beschäftigte, die im Jahr 2014 noch einen geringeren Stundenlohn als 8,50 Euro hatten.
Dienstleistungsberufe und Ostdeutsche profitieren
2015 sind die Bruttostundenlöhne von Voll- und Teilzeitbeschäftigten gestiegen, im dritten Quartal um 2,0 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. In Ostdeutschland lag die Steigerung im Schnitt sogar bei 3,6 Prozent, in Westdeutschland bei 1,7 Prozent. Die stärksten Zuwächse erzielten ungelernte Frauen in Ostdeutschland mit 8,5 Prozent, bei Männern der gleichen Gruppe gab es ein Plus von 8,0 Prozent.
Vor allem in Dienstleistungsberufen hat sich die Bezahlung verbessert: Der ostdeutsche Einzelhandel, das Gastgewerbe, die Wach- und Sicherheitsdienste und „sonstige personennahe Dienstleistungen“, zu denen etwa Wäschereien und Frisörsalons gehören, verzeichneten hohe Steigerungen. Im Gastgewerbe, das vom Mindestlohn am stärksten betroffen ist, stiegen die Verdienste um 2,9 Prozent, in Ostdeutschland sogar um 8,6 Prozent. Innerhalb des produzierenden Gewerbes wurde in der Fleischverarbeitung bis zum dritten Quartal ein Zuwachs von insgesamt 5,6 Prozent erreicht.
Für Minijobber liegen bislang keine Daten zu Bruttostundenlöhnen vor. Der Nominallohnindex des Statistischen Bundesamtes zeige aber, dass die monatlichen Verdienste bei geringfügig Beschäftigten schon 2014 spürbar zugelegt haben, heißt es im WSI-Report. Die Anpassung an den Mindestlohn sei gewissermaßen vorgezogen worden. In den ersten drei Quartalen 2015 stiegen die Verdienste der geringfügig Beschäftigten noch einmal wesentlich stärker als die der übrigen Beschäftigten. Allein im ersten Quartal nach Einführung des Mindestlohns erzielten Minijobber durchschnittlich doppelt so hohe Zuwächse wie die Gesamtheit der Arbeitnehmer.
Auch die Tarifpolitik hat dazu beigetragen, dass die unteren Lohngruppen weiter aufholen konnten. In mehreren Branchen, in denen es noch tarifliche Niedriglöhne unter 8,50 Euro gab, wurden höhere Verdienste bereits vor 2015 vereinbart. Die Gewerkschaften wollten damit niedrige Tarifentgelte an das Mindestlohnniveau heranführen, während die Arbeitgeberverbände auf die möglichst weitgehende Ausnutzung des Übergangszeitraums von zwei Jahren zielten. Zu den betroffenen Branchen zählen das Frisörgewerbe, die Fleischindustrie sowie der Bereich Land- und Forstwirtschaft und Gartenbau. Anfang 2015 lag der Anteil der Niedriglohngruppen unter 8,50 Euro in Tarifverträgen nur noch bei sechs Prozent. Durch weitere Tarifanpassungen konnte er im Laufe des Jahres 2015 auf drei Prozent reduziert werden.
Keine negativen Folgen für den Arbeitsmarkt
Die von vielen Ökonomen befürchteten Jobverluste sind ausgeblieben, zeigt die WSI-Analyse. Die Beschäftigung hat im Gegenteil kontinuierlich zugenommen. Im Oktober 2015 gab es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 713.000 mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte als im gleichen Monat des Vorjahres. Dies entspricht einem Zuwachs von 2,3 Prozent. In Ostdeutschland fiel das Plus mit 1,9 Prozent leicht geringer als in Westdeutschland mit 2,4 Prozent aus.
Gerade in Branchen mit traditionell vielen Geringverdienern sind nach Einführung des Mindestlohns nicht nur die Verdienste gestiegen, sondern auch die Zahl der Jobs. Den größten Beschäftigungsaufbau verzeichnete mit 6,6 Prozent das Gastgewerbe, gefolgt von den Bereichen „sonstige wirtschaftliche Dienstleitungen“, Leiharbeit, Heime und Sozialwesen sowie Verkehr und Lagerei. Lediglich in einer traditionellen Niedriglohnbranche, nämlich der ostdeutschen Land- und Forstwirtschaft, weist die Statistik einen geringen Rückgang aus. Allerdings könne dieser kaum auf den Mindestlohn zurückgeführt werden, so die Forscher. Denn gerade in diesem Bereich gilt ein Branchenmindestlohn unterhalb von 8,50 Euro.
Einen Rückgang von knapp 133.000 Stellen gab es bei Minijobs. Dieser ist mit einem Minus von 4,7 Prozent in Ostdeutschland gegenüber 1,3 Prozent in Westdeutschland besonders ausgeprägt. Allein aus der rückläufigen Zahl von Minijobs könne jedoch nicht auf eine entsprechende Anzahl von Arbeitsplatzverlusten geschlossen werden, schreibt das WSI und verweist auf aktuelle Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Danach kann etwas mehr als die Hälfte des Rückgangs bei Minijobs dadurch erklärt werden, dass die betroffenen Arbeitnehmer in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gewechselt sind. Bei rund 40 Prozent der ehemaligen Minijobber ist der Verbleib unklar, wobei das IAB davon ausgeht, dass sie mehrheitlich dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Anteil ehemaliger Minijobber, die sich nach Einführung des Mindestlohns arbeitslos gemeldet haben, war mit knapp vier Prozent gering.
Mindestlohn sollte weiter steigen
Vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen werde derzeit über die Anhebung des Mindestlohns diskutiert, so das WSI. Diese soll erstmals Anfang 2017 erfolgen. Als Orientierungsgröße für die Empfehlung der Mindestlohnkommission gilt die Entwicklung der Tariflöhne in den Vorjahren. Nach dem Tarifindex des Statistischen Bundesamtes stiegen die Tariflöhne 2014 und 2015 insgesamt um 5,5 Prozent. Das heißt für den Mindestlohn: Er müsste auf etwa neun Euro angehoben werden.
Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob ein solches Mindestlohnniveau tatsächlich den im Gesetz geforderten „angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ gewährleistet, heißt es im WSI-Bericht. Für eine Abwägung sehen die Forscher verschiedene relevante Orientierungsmarken. So liegen die Mindestlöhne in Westeuropa derzeit alle oberhalb von neun Euro pro Stunde. Der französische Mindestlohn liegt sogar mehr als einen Euro über dem deutschen Niveau. Auch relativ betrachtet ist der deutsche Mindestlohn niedrig: Er entspricht weniger als 50 Prozent des Medianlohns in Deutschland. Nach gängiger Definition müsse er damit als „Armutslohn betrachtet werden“, schreiben die Wissenschaftler. In den Diskussionen um eine europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik werde oft eine Untergrenze von 60 Prozent des Medianlohns im jeweiligen Land als „angemessen“ betrachtet. Für Deutschland würde dies eine Erhöhung auf mehr als zehn Euro bedeuten. Oberhalb dieser Marke liegen auch die meisten tariflich vereinbarten Branchenmindestlöhne.
Marc Amlinger, Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten: Ein Jahr Mindestlohn in Deutschland – Erfahrungen und Perspektiven (pdf), WSI Report 28, Januar 2016