Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitskosten: Höhere deutsche Löhne helfen Europa
Deutschland hat es in der Hand: Mit Lohnsteigerungen deutlich über dem Durchschnitt des Euroraums könnte es Gefahren für die deutsche Konjunktur abwenden - und den europäischen Nachbarn aus der Rezession helfen.
Zum ersten Mal seit dem Start der Europäischen Währungsunion haben hierzulande im vergangenen Jahr die Arbeitskosten in der Privatwirtschaft stärker angezogen als in Euroland insgesamt. In den Jahren von 2000 bis 2010 hingegen waren sie meist deutlich zurückgeblieben, oft als Folge einer relativ schwachen Lohnentwicklung in Deutschland, so das IMK. Das stärkere Wachstum werten die Wissenschaftler als kleinen Schritt in die richtige Richtung, weil es dabei helfe, die gefährlichen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen der Euroländer zu reduzieren.
Die Forscher haben das siebte Jahr in Folge die Entwicklung der Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit in der gesamten Europäischen Union ermittelt. Sie haben dafür die neuesten verfügbaren Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat herangezogen. Ihr Ergebnis: In Deutschland wäre für eine nachhaltige Entwicklung im gesamten Euroraum eine weitaus kräftigere Lohnsteigerung nötig. Seit dem Ausbruch der Krise haben Griechenland, Irland, Portugal und Spanien ihre Lohnstückkosten – die Arbeitskosten korrigiert um Produktivitätszuwächse – gesenkt, schreiben die Wissenschaftler.
Zu den Arbeitskosten zählen neben dem Bruttolohn die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen, Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung sowie als Arbeitskosten geltende Steuern. Mit Arbeitskosten von 30,10 Euro pro Arbeitsstunde lag die deutsche Privatwirtschaft 2011 an siebter Stelle in der EU – so wie im Vorjahr auch. Deutschland befindet sich damit im unteren Teil einer Ländergruppe mit Arbeitskosten von mehr als 27,60 Euro; das ist der Durchschnitt des Euroraums. Diese Gruppe zeichnet sich durch eine weite Spreizung der Arbeitskosten aus, zeigen die Berechnungen des IMK: Deren Höhe reicht von 28,90 Euro pro Stunde in Österreich bis zu 39,30 Euro in Belgien. Besonders hoch sind die Arbeitskosten auch in Schweden und Dänemark. In den südeuropäischen Krisenländern Portugal, Griechenland und Spanien liegen die Werte weit unter dem Durchschnitt: zwischen 12 Euro und 20,60 Euro.
Im Schnitt zogen die Arbeitskosten mit einem Plus von 2,7 Prozent im vergangenen Jahr sowohl in Euroland als auch in der EU deutlich stärker an als noch 2010. Das gilt auch für Deutschland, wo der Zuwachs 3 Prozent betrug. „Ob es sich bei dem leicht überdurchschnittlichen Arbeitskostenanstieg in Deutschland im vergangenen Jahr nur um einen ‚Ausreißer‘ handelt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilt werden“, so das IMK. Im ersten Halbjahr 2012 liege der Zuwachs jedenfalls nur noch leicht über dem entsprechenden Wert für den Euroraum. In Irland, Griechenland und Portugal hingegen sind die Arbeitskosten im Jahr 2011 gefallen. Lediglich das Krisenland Spanien verzeichnet einen Zuwachs von 2,8 Prozent.
Bei den privaten Dienstleistungen verharren die deutschen Arbeitskosten weiterhin im europäischen Mittelfeld, zeigen die Wissenschaftler. Mit 27,50 Euro pro Stunde liegt ihr Wert nur noch geringfügig höher als der Euroraum-Schnitt von 27,10 Euro. Wieder führen Dänemark, Belgien und Schweden mit Arbeitskosten zwischen 40 Euro und 38,90 Euro das Ranking an. Spanien, Griechenland, Portugal und Großbritannien rangieren nicht nur deutlich unter dem Durchschnitt Eurolands, sondern auch unter dem der gesamten EU. Dieser liegt bei 23,20 Euro die Stunde. Allerdings wirkt sich bei den Briten auch die Abwertung ihrer Währung aus.
Mit einem Anstieg um 2,5 Prozent lag Deutschland bei den Arbeitskosten für Dienstleistungen 2011 im Durchschnitt von Euroraum und EU. Die Spreizung hat hier ebenfalls stark zugenommen: Länder mit höheren Kosten verzeichnen Wachstumsraten zwischen 2,4 Prozent in den Niederlanden und Finnland und wechselkursbedingt 8,3 Prozent in Schweden. In den Staaten unterhalb des EU-Mittelwertes kommt Griechenland auf einen dramatischen Rückgang um 6 Prozent.
Das Verarbeitende Gewerbe weist hierzulande Arbeitskosten von 34,30 Euro pro Stunde auf. Das ist der fünfte Rang in Europa, der Euroraum-Durchschnitt liegt bei 29,70 Euro. Teurer ist Industriearbeit in Belgien, Schweden, Dänemark und Frankreich, deren Werte zwischen 40,70 Euro und 35,50 Euro betragen.
Deutschland erreichte mit einer Zunahme von 3,9 Prozent den stärksten Anstieg seit dem Jahr 2000. Auch Belgien, Dänemark und Frankreich verzeichneten starke Zuwächse. In den Krisenländern Portugal, Irland und Griechenland hingegen gingen die Werte zurück.
Auch wenn Deutschland vielfach Industriegüter exportiert: „Ein alleiniger Vergleich der Arbeitskosten im Verarbeitenden Gewerbe verzerrt die eigentliche Situation in der Industrie“, erläutern die IMK-Forscher. Ein methodisch sauberer Vergleich der tatsächlich für die Produktion von industriellen Gütern anfallenden Arbeitskosten müsse die Vorleistungsverflechtungen berücksichtigen. Denn Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes kaufen produktionsnahe Dienstleistungen oft extern ein. Und in Deutschland liegen die Arbeitskosten für Dienstleistungen um fast 20 Prozent unter denen der Industrie. So groß ist der Abstand in keinem anderen Land der EU.
Aufgrund dieser enormen Differenz profitiere die deutsche Industrie besonders stark von günstigen Vorleistungen – ein Vorteil, der sich in den vergangenen Jahren sogar vergrößert habe, so die Wissenschaftler. Im Jahr 2000 lagen die Arbeitskosten im Verarbeitenden Gewerbe noch knapp 5 Euro über den privaten Dienstleistungen. Mittlerweile hat der Abstand fast 7 Euro erreicht. Der tatsächliche Einspareffekt ist schwer zu beziffern; verschiedene Untersuchungen kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Er dürfte jedoch zwischen 8 und 10 Prozent der direkten Arbeitskosten in der Industrie liegen, schätzt das IMK.
Die Lohnstückkosten, also die Arbeitskosten korrigiert um Produktivitätszuwächse, sind in Deutschland deutlich schwächer gestiegen als in anderen Ländern des Euroraums. Zwischen Anfang 2000 und Mitte 2012 legten sie im Jahresmittel um lediglich knapp 0,7 Prozent zu. Euroland kam insgesamt auf ein Plus von jährlich 1,8 Prozent. Zwischen 2000 und dem Beginn des Jahres 2008 stagnierten die deutschen Lohnstückkosten, in der deutschen Industrie gingen sie von 2003 bis zum Beginn der Wirtschaftskrise Jahr für Jahr sogar deutlich zurück. Als Unternehmen im Zuge der Krise die Arbeitszeit verkürzten, stiegen die deutschen Lohnstückkosten dann deutlich stärker als im Euroraum-Durchschnitt. Mit der Erholung der Konjunktur 2010 hat sich der Zuwachs wieder verlangsamt.
Um innerhalb der Währungsunion eine weitere Annäherung bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, müsse sich Deutschland mit seinen Arbeitskosten viel stärker nach oben bewegen, empfiehlt das IMK. Es reiche nicht aus, dass die Lohnstückkosten in den Krisenländern mit derselben Rate wachsen wie in Deutschland. So würde sich die Wettbewerbsposition dieser Länder im Vergleich zu Deutschland nicht verbessern, sondern unverändert schlecht bleiben.
Nach Berechnungen der Forscher haben Irland, Spanien und Portugal ihre Lohnstückkosten bis Mitte 2012 so stark gesenkt, dass deren Entwicklung über die gesamte Zeit der Währungsunion gerechnet wieder in Einklang mit dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank steht: knapp zwei Prozent Zunahme pro Jahr. Deutschland mit seiner schwachen Lohnentwicklung habe hingegen das Inflationsziel lange Zeit deutlich unterschritten. Wäre dieses seit Existenz der Währungsunion eingehalten worden, lägen die Arbeits- und Lohnstückkosten in Deutschland um 16 Prozent höher.
Ulrike Stein, Sabine Stephan, Rudolf Zwiener: Zu schwache deutsche Arbeitskostenentwicklung belastet Europäische Währungsunion und soziale Sicherung (pdf), IMK Report Nr. 77, November 2012