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Herausforderung Inflation Böckler Impuls

Tarifpolitik: Herausforderung Inflation

Ausgabe 13/2022

Europas Beschäftigten drohen Reallohnverluste durch steigende Preise, gleichzeitig melden viele Unternehmen hohe Gewinne. Die Tarifparteien müssen eine Schieflage bei der Verteilung vermeiden.

Durch die hohe Inflation sind 2022 in allen EU-Ländern Reallohnverluste für Beschäftigte wahrscheinlich – ein in den vergangenen Jahrzehnten einmaliger Vorgang. Die Entwicklung der effektiven Bruttolöhne könnte EU-weit um 2,9 Prozent hinter der Preissteigerung zurückbleiben, ebenso groß ist der drohende Reallohnverlust in Deutschland. Anzeichen für eine sich überhitzende Lohndynamik, die ihrerseits die Inflation verstärken könnte, gibt es angesichts einer weiterhin verhaltenen Entwicklung der Nominallöhne nicht. Diese stiegen in Deutschland im Jahr 2021 nach Daten der Europäischen Kommission nur um 3,4 Prozent und blieben damit deutlich unterhalb der allgemeinen Preissteigerung. Für das laufende Jahr zeichnet sich in Deutschland eine ähnliche Entwicklung ab, und auch das EU-weite Nominallohnwachstum dürfte mit voraussichtlich 3,7 Prozent moderat bleiben. Zu diesen Ergebnissen kommt der Europäische Tarifbericht des WSI. 

Gleichzeitig verzeichnen viele Unternehmen weiterhin hohe Gewinne und schütten Milliarden Euro an Dividenden aus, so die Autoren Malte Lübker und Thilo Janssen. Dabei haben sie etwa die deutsche Automobilindustrie im Blick. Das laufende Jahr könnte von einer Umverteilung zulasten der Beschäftigten geprägt sein – eine Entwicklung, die sich nach Einschätzung der Europäischen Kommission in einer sinkenden Lohn- und steigenden Gewinnquote zeigen wird. Um gegenzusteuern, seien hohe Lohnforderungen in Branchen mit guter Gewinnentwicklung durchaus berechtigt und für die Unternehmen auch zu verkraften, so die Analyse der Wissenschaftler. Dies gelte auch, wenn gestiegene Weltmarktpreise für Vorprodukte und importierte Energie berücksichtigt werden. 

Die Forscher haben den „neutralen“ Verteilungsspielraum berechnet, bei dem die Anteile von Löhnen und Gewinnen an der inländischen Wertschöpfung konstant bleiben. Um sicherzustellen, dass das Ergebnis nicht durch die gestiegenen Importpreise verfälscht wird, haben sie die gesamte Inflation – nicht nur den Anstieg der Verbraucherpreise – und die Produktivitätsentwicklung einbezogen. Ergebnis: Sowohl für Deutschland als auch die EU ergibt sich hieraus ein gesamtwirtschaftliches Potenzial für Lohnsteigerungen von etwa sechs Prozent. 

Die Prognose der Europäischen Kommission „legt damit nahe, dass gesamtwirtschaftlich gesehen relativ hohe nominale Lohnsteigerungen möglich sind, ohne dass diese zwangsläufig zu einem Rückgang der Unternehmensgewinne führen“, schreiben Lübker und Janssen. Allerdings, auch darauf weisen die Forscher hin, ist jeder Ausblick im Moment „mit einer ungewöhnlich hohen Unsicherheit behaftet“. Diese Unsicherheiten seien sicherlich Anlass für Vorsicht, sollten aber nicht zu vereinfachten Schlussfolgerungen verführen, warnen die Wissenschaftler: „Einseitige Forderungen an die Gewerkschaften, im übergeordneten Interesse auf Lohnsteigerungen zu verzichten, greifen zu kurz und verkennen die Ursachen der momentanen Preisdynamik. Angebrachter wäre ein Appell an die Unternehmen, ihrerseits Gewinnzurückhaltung zu üben“, so Lübker und Janssen. „Auch dem Staat kommt derzeit eine besondere Verantwortung dafür zu, die sozial- und verteilungspolitischen Auswirkungen der Inflation abzufedern und so indirekt den Erwartungsdruck auf die Tarifparteien zu mildern.“

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