Quelle: HBS
Böckler ImpulsGrundsicherung: Hartz IV braucht mehr als einen neuen Namen
Die neue Bundesregierung will Hartz IV abschaffen und unter dem Namen „Bürgergeld“ eine neue Grundsicherung einführen. Doch ein angemessenes Leistungsniveau ist nicht in Sicht.
An die Stelle von Hartz IV soll ein „Bürgergeld“ treten. Vermögensanrechnung und Sanktionen sollen entschärft und das Prinzip „jede Arbeit ist besser als keine Arbeit“ abgeschafft werden. Das wären aus Sicht vieler Sozialforscherinnen und -forscher Fortschritte. Doch schwerwiegende Mängel des alten Systems bleiben bestehen. Besonders an der unzureichenden Höhe der Leistungen dürfte sich so schnell nichts ändern. In einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Sammelband erläutert die Verteilungsforscherin Irene Becker, wo die Ampelkoalition nachbessern muss, wenn das Bürgergeld wirklich „die Würde des und der Einzelnen achten“ sowie „zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“ soll, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
Die heutigen Hartz-IV-Regelsätze – die das soziokulturelle Existenzminimum sichern sollen, es nach Auffassung vieler Sozialexpertinnen und -experten aber nicht tun – werden nach einem relativ komplexen Verfahren berechnet, in dem sich „objektive“ Statistik und teilweise „willkürliche“ politische Vorgaben vermischen. Das führt zu schwer nachvollziehbaren, insgesamt nicht sachgerechten Ergebnissen, so Becker.
Statistische Verfahren sind bei der Bestimmung des existenziellen Bedarfs unverzichtbar, denn das Existenzminimum lässt sich nur sinnvoll „relativ zum gesellschaftlichen Umfeld definieren“, schreibt die Forscherin. Entsprechend werden aus den vom Statistischen Bundesamt erhobenen Informationen über die Konsumausgaben bestimmter Haushaltsgruppen, deren Einkommen in einer gewissen Spanne oberhalb der Grundsicherung liegen, die Bedarfe abgeleitet. Als Bezugspunkt sollen damit Haushalte dienen, die „bescheiden“ leben, aber nicht von ernsthafter Ausgrenzung aus materiellen Gründen betroffen sind – so die Grundidee der Methode.
Politische Entscheidungen, also normative Setzungen, die sich aus gesellschaftlichen Debatten ergeben sollten, sind aber trotzdem nötig. Schließlich muss zunächst klar definiert werden, auf welche Weise sich die Grundsicherung am Lebensstandard anderer Haushalte orientieren soll. Heute fließen politische Setzungen Becker zufolge „eher versteckt“ in die Berechnungen ein. So fehlt es an einer überzeugenden Begründung für die gewählten Referenzeinkommensbereiche für verschiedene Haushaltstypen. Außerdem bleiben bestimmte Ausgaben der Referenzhaushalte, etwa für eine Flasche Wein zu besonderen Anlässen oder Kantinenessen, unberücksichtigt. Solche normativ motivierten Eingriffe in die Berechnung führen aber das ganze Statistikverfahren ad absurdum. Denn dessen Ansatz besteht gerade darin, den Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung gerade keinen vordefinierten Warenkorb vorzusetzen. Andere Haushalte benötigen das entsprechende Geld beispielsweise für die Zutaten für einen Geburtstagskuchen oder für ein rezeptfreies Medikament, was dann mit dem gekürzten Grundsicherungsbetrag nicht gedeckt wäre. Etwa ein Viertel der Konsumausgaben der Referenzgruppe ohne Berücksichtigung von Wohnkosten fällt aktuell den Streichungen zum Opfer.
Grundsätzlich, so Becker, hat das heute angewandte Berechnungsverfahren außerdem die Neigung, Zirkelschlüsse zu produzieren: Wenn stets von einem freihändig gesetzten unteren Ende der Verteilung ausgegangen wird, werden Haushalte als Maßstab herangezogen, die möglicherweise selbst schon von Ausgrenzung betroffen sind.
Daher hat Becker ein Reformkonzept entwickelt, das von Sozialexpertinnen und -experten vieler Wohlfahrtsverbände unterstützt wird. Der Kern des Alternativmodells: „Normative Entscheidungen sind auf die Vorgabe eines akzeptablen maximalen Rückstands gegenüber der gesellschaftlichen Mitte beschränkt“. Die Mitte, genauer: das mittlere Fünftel der Einkommensverteilung, bildet den „Ankerpunkt des Konzepts“. Denkbar wäre etwa, soziokulturelle Teilhabe als gerade noch gegeben zu definieren, wenn Haushalte bei Ernährung und Kleidung um nicht mehr als 25, bei anderen Bedarfen um nicht mehr als 40 Prozent hinter die Mitte zurückfallen. Streichungen bestimmter Ausgabenpositionen fänden nicht statt. Nach Modellrechnungen würde dies zu einem um 46 Prozent höheren Regelsatz führen. Ein wesentliches Element des Konzepts ist Becker zufolge, dass es eine untere Haltelinie für politische Setzungen gibt.
Irene Becker: Sicherung des Existenzminimums mit Regelleistungen, in: Florian Blank u.a. (Hg.): Grundsicherung weiterdenken, Transcript 2021