Quelle: HBS
Böckler ImpulsNiedriglöhne: Haare schneiden für ein Taschengeld
Hilfsarbeiter in Unternehmen ohne Tarifbindung müssen in der Regel von Niedriglöhnen leben. Doch selbst nach Tarif bezahlten Fachkräften geht es in einigen Branchen nicht besser, dokumentiert das WSI-Tarifarchiv.
Niedriglöhne sind in Deutschland nicht selten eine geregelte Angelegenheit. Nicht nur Arbeitgeber ohne Bindung an Tarifverträge zahlen schlecht - auch viele Tarifverträge können die Beschäftigten nicht vor kleinem Gehalt schützen. Reinhard Bispinck, Experte des WSI, stellt fest: "Vor allem in Ostdeutschland, aber auch in einigen Branchen in Westdeutschland liegen die untersten tariflichen Grundvergütungen für Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten zum Teil deutlich unter 6 Euro die Stunde." Gartenbaubetriebe in Brandenburg zahlen laut Tarif ihren Beschäftigten der untersten Vergütungsgruppe 857 Euro brutto im Monat - das entspricht einem Stundenlohn von 4,71 Euro. Als Arbeiter im Sanitär-, Heizung- und Klimahandwerk in Rheinland-Pfalz gibt es 863 Euro zu verdienen (Stundenlohn 5,15 Euro).
Geringe Tariflöhne gelten nicht allein für Hilfsarbeiter ohne ausreichende Berufsqualifikation. Viele Regelungen sehen auch für gelernte Fachkräfte wenig Geld vor: Für einen Floristen in Sachsen-Anhalt sind ohne Zusatzleistungen im dritten Berufsjahr nicht mehr als 959 Euro im Monat (5,38 Euro/Stunde) drin. Selbst mit dem Bruttogehalt erreicht er nicht die Pfändungsfreigrenze - nicht gepfändet werden dürfen 985 Euro im Monat für einen Alleinstehenden. Ein Konditor in Hamburg kommt nach der Lehre auf 1.315 Euro im Monat (7,87 Euro/Stunde) und somit nicht über die Schwelle zum Armutslohn.
Diese Grenze setzt das WSI bei der Hälfte des westdeutschen Brutto-Durchschnittslohns an, also derzeit bei 1.500 Euro. Am schlechtesten stehen Friseure in Sachsen da: Sie erhalten nach der Lehre gerade mal 615 Euro, einen Stundenlohn von 3,82 Euro.
Wie viele Beschäftigte sich derzeit in den untersten Etagen des Tarifsystems aufhalten, ist empirisch nicht ermittelt. Egal, wie hoch die Zahl ist: Löhne und Gehälter der unteren Tarifgruppen sind für alle Beschäftigten der jeweiligen Branche von Bedeutung. Tarifexperte Bispinck: "Diese Löhne strahlen auf das gesamte Tarifgefüge aus. Sie wirken wie ein Anker." Offensichtlich sei es gerade deshalb schwierig, die Kleinverdiener durch überproportionale Lohnsteigerungen besser zu stellen. Umgekehrt gab es in den vergangenen zehn Jahren aber auch keinen generellen Trend dazu, Niedriglöhne in den Tarifverträgen weiter auszudehnen.
In manchen Wirtschaftszweigen - etwa im Bewachungsgewerbe und Bäckerhandwerk - liegt das das gesamte Tarifniveau so tief, dass man von ganzen Niedriglohnbranchen sprechen kann. Das hat eine Reihe von Ursachen: Zum Teil kämpfen die Branchen mit wirtschaftlichen Problemen, besonders deutlich ist das in der Landwirtschaft. Oder in den kleinen Verdiensten drückt sich eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung aus - etwa in der Gebäudereinigung. Zudem erschwert eine große Fluktuation in Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe eine gemeinsame Interessenvertretung der Arbeitnehmer, der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist gering.
Die Tarifexperten des WSI beobachten in manchen Tarifverträgen eine "überstarke Differenzierung im unteren Einkommensbereich." Das trage zur Verfestigung der Einkommensspreizung bei. So gibt es im nordrhein-westfälischen Hotel- und Gaststättengewerbe gleich sieben Vergütungsgruppen, in denen die Beschäftigten weniger als 10 Euro die Stunde verdienen. Im Tarifvertrag ist geregelt: Hilfskräfte in der Kantine bekommen mehr als Garderobenfrauen, aber weniger als Wäscherinnen. Solche Differenzierung erschwere es, Niedriglöhne künftig durch Tarifverträge einzudämmen. Angesichts solcher Hindernisse bilanziert Reinhard Bispinck, das Tarifsystem könne in manchen Branchen Armutslöhne kaum verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, sei hier ein gesetzlicher Mindestlohn wesentlich effektiver.
Reinhard Bispinck, Claus Schäfer: Niedriglöhne und Mindesteinkommen, in: Thorsten Schulten u.a. (Hrsg.): Mindestlöhne in Europa, VSA-Verlag, erscheint März 2006. Mehr Infos zu aktuellen Tarifvergütungen