Tarifbindung: Gesetzliche Stützen für das Tarifsystem
Bieten die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und das Entsendegesetz Schutz vor Armutslöhnen? Beide Instrumente haben derzeit Schwächen, zeigt das neue WSI-Tarifhandbuch.
Die Tarifbindung in Deutschland verliert an Kraft. Im Westen war 1998 das Entgelt von 76 Prozent der Beschäftigten durch Tarifvertrag gesichert, bis 2004 sank der Anteil auf 68 Prozent. Im gleichen Zeitraum schmolz die Quote im Osten von 63 auf 53 Prozent.
Gerade für Geringverdiener ist das ein Problem: Ohne Tarifbindung fehlt die untere Absicherung des Lohngefüges. Die kann eine Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) wiederherstellen. Wenn ein Arbeitsminister einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, dann gilt er für alle Arbeitgeber und Beschäftigten einer Branche.
Dazu ist es in den vergangenen Jahren aber nur selten gekommen. Die Zahl der Allgemeinverbindlicherklärungen ist kontinuierlich zurückgegangen - 2005 waren nur noch rund 1,8 Prozent der Ursprungstarifverträge allgemeinverbindlich. Hauptgrund dafür ist "die zunehmend restriktive Haltung der Arbeitgeberverbände im Tarifausschuss", erläutert WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck. Der Arbeitsminister kann eine AVE nur im Einvernehmen mit dem paritätisch besetzten Tarifausschuss aussprechen. Allgemeinverbindliche Lohn- und Gehaltstarifverträge erfassten zu Beginn des Jahres 2004 rund 500.000 Arbeitnehmer, davon 170.000 in zuvor nicht tarifgebundenen Unternehmen. Es gibt sie in Branchen wie dem Friseur- und Gebäudereinigerhandwerk oder dem Wach- und Sicherheitsgewerbe.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz kann den Weg zu einer AVE erleichtern. Das Entsendegesetz zielt darauf ab, per AVE Lohndumping zu verhindern: Es ermöglicht, Tarifverträge auf die nach Deutschland entsandten Beschäftigten eines ausländischen Unternehmens auszudehnen. Von einer solchen AVE profitieren auch alle deutschen Arbeitnehmer in nicht tarifgebundenen Unternehmen. In Branchen, für die das Entsendegesetz gilt, benötigt der Bundesarbeitsminister nicht das Plazet der Tarifparteien, somit entfällt die Vetomöglichkeit der Arbeitgeber. Das Gesetz kann bislang nur im Baugewerbe und in der Seeschifffahrtsassistenz angewendet werden. Wenn der Geltungsbereich des Entsendegesetzes jedoch ausgeweitet wird, könnte es erheblich an Bedeutung gewinnen, erwartet der Tarifexperte Bispinck.
Aber auch für die AVE nach dem Entsendegesetz gibt es Hürden. Das Gesetz greift nur, wenn die Tarifverträge eine Branche komplett erfassen, entweder durch einen bundesweiten Vertrag oder durch flächendeckende regionale Verträge. Bundesweite Verträge gibt es laut WSI lediglich in 8 von 39 untersuchten Wirtschaftszweigen. Dazu zählen Banken und Versicherungen, Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau, Recycling und Entsorgung, Zeitarbeit, Gebäudereinigung. Nach dem Entsendegesetz allgemeinverbindlich sind Verträge im Bauhauptgewerbe, im Maler- und Lackierer- sowie im Dachdeckerhandwerk. Die übrigen 31 Wirtschaftszweige haben regionale Lohn- und Gehaltstarifverträge.
Diese Vielfalt macht die bundesweite Anwendung des Entsendegesetzes schwierig. In einigen Branchen decken die Verträge nicht einmal das gesamte Bundesgebiet ab. "Es müssten also große Lücken in der Tariflandschaft geschlossen werden", so Bispinck. Um möglichst alle Möglichkeiten zur Stabilisierung des Tarifsystems zu nutzen, sei es gleichwohl sinnvoll, das Gesetz auf alle Branchen auszuweiten. Solche gesetzlichen Stützen für das Tarifsystem gibt es in vielen europäischen Nachbarländern.
Unabhängig davon gilt: Allgemeinverbindlicherklärungen bieten nur dann Schutz vor Armutslöhnen, wenn die niedrigsten Tariflöhne hoch genug sind. Tatsächlich enthalten etliche Verträge in den unteren Gruppen Vergütungen zwischen vier und sieben Euro je Stunde. Deshalb müssten entweder die Löhne angehoben werden, sagt Bispinck, oder ein gesetzlicher Mindestlohn sei erforderlich. Das Entsendegesetz einfach auf tarifliche Niedriglöhne anzuwenden, heiße Armutslöhne zu fixieren statt zu beseitigen.
WSI-Tarifhandbuch 2006.
Reinhard Bispinck, Claus Schäfer: Niedriglöhne und Mindesteinkommen, in Th. Schulten, R. Bispinck, C. Schäfer (Hrsg.): Mindestlohn in Europa, VSA-Verlag, Hamburg 2006. mehr Infos zum Buch