Quelle: HBS
Böckler ImpulsPrekäre Arbeitsverhältnisse: Gefühlte Unsicherheit
Prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder Scheinselbstständigkeit wird bisher völlig unterschätzt - meint der Soziologe Prof. Klaus Dörre von der Universität Jena. Wer nur auf die langfristigen Zahlen schaue, übersehe die "expansive Dynamik" der Entwicklung und: die enormen Auswirkungen auch für diejenigen, die (noch) einen Norm-Arbeitsplatz haben.
"Eine Entwarnung ist völlig unangebracht", sagt Dörre mit Blick auf Zeit- und Leiharbeiter, befristet Beschäftigte, abhängig Selbstständige, Mini- und Gelegenheitsjobber. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind in manchen Branchen und Altersgruppen längst Normalität geworden. 2004 waren beispielsweise knapp 13 Prozent der Beschäftigten befristet eingestellt. Von den unter 20-Jährigen waren es aber bereits 40 Prozent. Die Zahl der Leiharbeiter hat sich binnen weniger Jahre verdoppelt. Die der freien Mitarbeiter wächst augenscheinlich, wird aber bislang noch gar nicht gezählt.
Als prekär kann ein Arbeitsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und Integrationsniveau sinken, das in der Gesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Job-Unsicherheit und Löhne unterhalb des Existenzminimums sind aus Arbeitnehmersicht die zentralen Merkmale der prekären Beschäftigung. Als großes Problem nennen sie die Unmöglichkeit, (das Leben) auch nur annähernd verlässlich zu planen. Ebenso Sinnverluste, soziale Isolation, mangelnde Anerkennung und Statusunsicherheit.
Dörre untersuchte mit Interviews, Gruppen- und Expertengesprächen, wie Arbeitnehmer prekäre Beschäftigung für sich verarbeiten. Er stieß auf starke Wechselbeziehungen zwischen Stammbelegschaften und flexiblen Arbeitskräften:
- Leiharbeiter oder befristet Beschäftigte wirkten als "ständige Mahnung": Festangestellte, die Leiharbeiter zunächst als wünschenswerten Flexibilisierungspuffer betrachten, beschleiche ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit, wenn sie an die Leistungsfähigkeit und Ansprüche der Externen dächten. Bereits die bloße Präsenz weniger Leiharbeiter wirke disziplinierend auf große Belegschaften.
- Freelancer im Bereich hoch qualifizierter Angestellter sorgen, auch nur bei wenigen Wochentagen im Büro, dafür, dass Festangestellte in gleicher Weise mitziehen.
- Der Einsatz polnischer Kontingentarbeiter bewegte die befragten Bauarbeiter zu weit reichenden Zugeständnissen bei der tariflichen Lohn- und Arbeitszeit.
Fest Beschäftigte hätten ständig diejenigen vor Augen, die alles tun würden, um ihrer Unsicherheit zu entkommen, sagt Dörre. Der "Besitz" eines unbefristeten Vollzeiterwerbsverhältnisses erscheine als "verteidigungswertes Privileg". Angst vor dem Abrutschen - selbst wenn es nur eine "gefühlte Unsicherheit" sei - schaffe den Nährboden dafür, dass tarifvertragliche Normen ausgehöhlt werden. Qualitative Ansprüche an die Arbeit - beispielsweise nach mehr Arbeitsschutz oder vielfältigerer Arbeit statt Monotonie - könnten sich so kaum mehr Geltung verschaffen: "Der Traum des Leiharbeiters ist es, Stammbeschäftigter zu werden. Gegenüber diesem Traum verblassen Widrigkeiten belastender monotoner Tätigkeiten."
Wie prekär Beschäftigte ihre Situation verarbeiten, hängt maßgeblich vom Alter, der beruflichen Laufbahn, der Qualifikation, dem Geschlecht und der ethnischen Herkunft ab, fand Dörre heraus. Er unterscheidet drei Zonen und neun typische Formen der Einbindung oder Ausgrenzung durch Erwerbsarbeit. Zufriedenheit, Verunsicherung oder Angst sind dabei nicht mehr automatisch an bestimmten Formen der Erwerbsarbeit festzumachen. So arrangiert sich beispielsweise eine Verkäuferin, Ehefrau eines Gutverdieners, vorbehaltlos mit ihrer Rolle als Zuverdienerin. Jugendliche Erwerbslose definierten sich in den Befragungen als "arbeitende Arbeitslose", weil sie ihr Einkommen schwarz verdienen. Junge Leiharbeiter sahen ihr prekäres Beschäftigungsverhältnis als Sprungbrett in eine Normbeschäftigung. Ältere Leiharbeiter arrangierten sich pragmatisch mit Pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und Leiharbeit.
Der Forscher warnt auch davor, flexible Arbeit und prekäre Beschäftigung gleich zu setzen. Freelancer, Manager, Werbefachleute beispielsweise kompensieren das Sicherheitsrisiko ihres unsteten Beschäftigungsverhältnisses durch einen Gewinn an "Freiheit", sie vertrauen ihrer Qualifikation und ihren finanziellen und sozialen Möglichkeiten.
Auf der anderen Seite fand Dörre die Angst vor Arbeitslosigkeit oder prekärer Beschäftigung auch unter den fest Beschäftigten verbreitet, selbst in gut laufenden Unternehmen.
Immer stärker erfolgt die Integration in die Gesellschaft nicht mehr über Erwerbsarbeit, sondern über andere, auch traditionelle "Integrationspotenziale", stellt Dörre fest. Die Kritik an Unternehmensstrategien, Managementkonzepten und einer Arbeitsmarktpolitik, die prekäre Beschäftigung fördert, will er aufrecht erhalten wissen. Die Macht der Gewerkschaften reicht seiner Meinung nach jedoch nicht aus, flächendeckend zum Norm-Arbeitsplatz zurückzukehren. Sie sollten die "Selbstorganisation vermeintlich unorganisierbarer Gruppen fördern", Leiharbeiter oder prekär beschäftigte Verkäuferinnen seien hier durchaus ansprechbar. Erfolgsbeispiele für eine solche Strategie gibt es im Ausland. Den italienischen Gewerkschaften brachte ihr Beratungs- und Dienstleistungssystem Mitgliederzuwächse. Und die US-Gewerkschaften erzielten Erfolge bei Migranten und "Prekariern", indem sie Bündnisse mit sozialen Bewegungen, Kirchen und Selbsthilfeorganisationen schmiedeten.
Mittelfristig wird ein neues Leitbild benötigt, meint der Forscher, das gute Arbeit nicht mehr mit dem überkommenen Normalarbeitsverhältnis gleichsetzt. Benötigt werde, schreibt Dörre, "die Vision einer Arbeitswelt, die es möglichst Vielen erlaubt, Lebensphasen spezifisch zwischen Erwerbsarbeit, Weiterbildung, gemeinnütziger Tätigkeit und Familienzeiten zu wählen."
Was regeln Betriebsvereinbarungen?
Viele Betriebsvereinbarungen weisen befristet Beschäftigten und Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern die Rolle der Randbeschäftigten zu: Wenn zeitweilig mehr Personal gebraucht wird, dürfen sie eingesetzt werden, steht jedoch Personalabbau bevor, erhalten sie kein Angebot zur Vertragsverlängerung. Nur selten, wenn es um Interessenausgleich und Sozialplan geht, wird auch befristet Beschäftigten eine Ausgleichszahlung zugestanden.
Die Arbeitsrechtlerin Christine Zumbeck wertete die über 7.000 Vereinbarungen des Archivs Betriebs- und Dienstvereinbarungen der Hans-Böckler-Stiftung auf Regelungen zu diesem Thema aus. In 74 wurde sie fündig.
Vor allem in jüngeren Vereinbarungen ist jedoch der Trend erkennbar, die Integration der "Befristeten" und Zeitarbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voranzutreiben. Zumbeck: "Für den Fall, dass Personal eingestellt werden soll, wird den Randbeschäftigten eine bevorzugte Stellung gegenüber den externen Bewerbern eingeräumt. In manchen Vereinbarungen ist sogar vorgesehen, sie nach einer bestimmten Einsatzzeit zu übernehmen." Die bereits im Betrieb verbrachte Zeit wird dann als Beschäftigungszeit angerechnet.
Zum Teil sichern sich Betriebsräte bei der Zeitarbeit auch zusätzliche Mitbestimmungsrechte. Dies geschieht insbesondere dann, wenn sie sich zugunsten einer zügigen Abwicklung auf eine Vorab-Zustimmung zu Einstellungen unter konkreten Vorbedingungen eingelassen haben.
Klaus Dörre: Prekarität - Eine arbeitspolitische Herausforderung,
in: WSI-Mitteilungen 5/2005
Beck, Dorothee (Hrsg.): Zeitarbeit als Betriebsratsaufgabe, Dokumentation der Arbeitstagung am 28. Oktober 2004 in Düsseldorf
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Christine Zumbeck, Referat Arbeitsrecht in der Hans-Böckler-Stiftung: Auswertung von Regelungen zu Befristung und Zeitarbeit in Betriebsvereinbarungen, 2005