Quelle: HBS
Böckler ImpulsGender: Familienernährer in der Krise
Mehr Gleichberechtigung kann Leben retten: Das Selbstmordrisiko arbeitsloser Männer sinkt, wenn egalitäre Ideale vorherrschen.
Die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise war die schlimmste seit der Großen Depression. In den Jahren nach der Lehman-Pleite habe nicht nur die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern massiv zugenommen, sondern auch die Zahl der Selbstmorde, schreiben Aaron Reeves und David Stuckler von der Universität Oxford. Dabei waren Männer deutlich stärker gefährdet als Frauen: Nach den Berechnungen der Soziologen erhöhte sich während der Rezession das Suizidrisiko der weiblichen Bevölkerung in Europa um 1,4 Prozent, das der männlichen dagegen um 7,7 Prozent. Reeves und Stuckler vermuten, dass für diese Diskrepanz unter anderem Geschlechterstereotype verantwortlich sind. Ihre These: Je wichtiger die Rolle als Ernährer der Familie für das männliche Selbstverständnis ist, desto gravierender ist der Statusverlust, der Männern bei Arbeitslosigkeit droht. In Gesellschaften mit traditionellen Männlichkeitsidealen müssten sich ökonomische Krisen demnach stärker auf die männliche Psyche – und damit das Selbstmordrisiko – auswirken als in Gesellschaften, in denen progressive Vorstellungen dominieren.
Um diese Vermutung empirisch zu überprüfen, haben die Forscher Daten der Weltgesundheitsorganisation und der OECD zu Suizidraten und Arbeitslosigkeit in 20 EU-Ländern ausgewertet. Zu diesen Daten haben sie den Index für Geschlechtergerechtigkeit des World Economic Forum in Beziehung gesetzt, der Faktoren wie die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Ausmaß der Lohnlücke und den Frauenanteil im Parlament zusammenfasst. Als Kontrollvariable wurde das Bruttoinlandsprodukt berücksichtigt.
Statistisch lässt sich zunächst nachweisen, dass in der Tat ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmorden besteht. Ein Anstieg der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt erhöht demnach die Suizidrate um 0,72 Prozent. Mit 1,13 Prozent ist der Effekt am stärksten ausgeprägt bei Männern im Erwerbsalter. Ein egalitäres Klima wirkt diesem Zusammenhang entgegen: Mit zunehmender Gleichberechtigung wird der Effekt bei Männern kleiner, bei Frauen ergeben sich keine signifikanten Änderungen. Das heißt: Das geringere Selbstmordrisiko der Männer wird nicht auf Kosten der weiblichen Bevölkerung erreicht. Reeves und Stuckler schließen daraus, dass wirtschaftliche Unsicherheit nicht zwangsläufig zu mehr Selbstmorden führen muss. Politische Programme für mehr Geschlechtergleichheit seien nicht nur an sich wertvoll, sondern zudem ein sinnvoller Beitrag zur Suizidprävention.
Aaron Reeves, David Stuckler: Suicidality, Economic Shocks, and Egalitarian Gender Norms, in: European Sociological Review, September 2015