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HBS Böckler Impuls

Eurokrise: EZB könnte Staatspleiten verhindern

Ausgabe 16/2011

Die Europäische Zentralbank hat durch Geldmarktinterventionen 2008 den Zusammenbruch des Bankensystems verhindert. Heute könnte sie eine Eskalation der Eurokrise verhindern, argumentiert der Ökonomieprofessor Paul de Grauwe – durch Interventionen auf dem Markt für Staatsanleihen.

Zentralbanken sind Retter in höchster Not: Wenn die Verunsicherung an den Finanzmärkten so groß ist, dass niemand mehr Kredite vergibt, springen sie ein und erhalten die Geldversorgung des Bankensystems aufrecht. Auf diese Weise trug die Europäische Zentralbank (EZB) im Oktober 2008 wesentlich dazu bei, nach der Lehman-Pleite eine Lawine von Bank-Insolvenzen zu verhindern. Paul de Grauwe, Professor für internationale Wirtschaft im belgischen Löwen und Forscher am Centre for European Policy Studies, schlägt daher vor, den Aufgabenbereich der EZB zu erweitern. Nicht nur wenn das Bankensystem in der Klemme steckt, könnte die Zentralbank als „Kreditgeber letzter Instanz“ auftreten. Sondern auch, wenn verunsicherte Anleger Euro-Staaten plötzlich von der Kreditversorgung abschneiden.

De Grauwe vergleicht die Bankenkrise von 2008 mit der 2010 ausgebrochenen Staatsschuldenkrise. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Grundmuster sich ähneln: Die Marktteilnehmer verloren zunächst das Vertrauen in bestimmte Wertpapiere – verbriefte US-Hypotheken oder griechische Staatsanleihen. In der Folge griff die Verunsicherung auch auf andere Märkte oder Marktsegmente über. In der Bankenkrise auf den Geldmarkt, in der Schuldenkrise auf die Anleihekurse anderer Länder.

Wird der Vertrauensverlust nicht gestoppt, können Abwärtsspiralen entstehen. Aktuell heißt das: Fordern Geldgeber immer höhere Risikoprämien, können sie Staaten in die Insolvenz treiben – und damit auch deren Gläubigerbanken. Der wirksamste Schutz gegen eine solche Eskalation besteht de Grauwe zufolge in einer Institution, die im Ernstfall eingreift, so wie es die EZB in der Bankenkrise getan hat. In aller Regel müsse ein solcher „lender of last resort“ gar nicht in Aktion treten; es reiche normalerweise aus, wenn die Marktteilnehmer sich darauf verlassen können, dass er im Notfall zur Stelle wäre.

Aber ist die EZB für den Staatsanleihenmarkt überhaupt zuständig? Der Wirtschaftsprofessor begründet dies mit den Besonderheiten der gemeinsamen Währung. Gegenüber Ländern mit eigenem, nationalen Geld stehen die Mitgliedsstaaten einer Währungsunion nach de Grauwe vor einer besonderen Schwierigkeit: Ihre Regierungen haben praktisch keinen Einfluss auf die Geldpolitik. Und die supranationale Zentralbank kann die Probleme eines einzelnen Landes nur in Maßen berücksichtigen. Faktisch müssen die Regierungen damit Kredite „in einer Fremdwährung, über die sie keine Kontrolle haben“ aufnehmen.

Dadurch können sie eher Schwierigkeiten bekommen, ihre Raten pünktlich zurückzuzahlen, als Staaten mit nationaler Währung. Diese hätten es viel leichter, ihre Schuld – in eigener Währung, mit Unterstützung der nationalen Notenbank – vollständig zu begleichen, argumentiert der Wissenschaftler. Denn es bestehe eine „implizite Garantie“, dass die Zentralbank auch für den Staatsanleihenmarkt als „lender of last resort“ dient. Das Fehlen einer solchen Garantie mache eine Währungsunion anfälliger für staatliche Liquiditätskrisen, die schnell von einem Land aufs andere überspringen können. Deshalb sollte Europas Zentralbank nach de Grauwe den expliziten Auftrag bekommen, den Mitgliedsstaaten in Krisenzeiten durch den Kauf von Staatspapieren die nötige Liquidität zur Verfügung zu stellen.

Dass es für Investoren tatsächlich einen Unterschied macht, ob Staaten über eine Liquiditätsgarantie der Zentralbank verfügen, zeigt dem Forscher zufolge etwa der Vergleich zwischen Spanien und Großbritannien: Obwohl der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in Spanien niedriger ist, muss das Land höhere Zinsen zahlen. Das hat nach der Analyse De Grauwes damit zu tun, dass Anleger das Konkursrisiko von Mitgliedern der Währungsunion in der gegenwärtigen Situation für höher halten.

Der Ökonom setzt sich auch mit möglichen Einwänden gegen seinen Vorschlag zur Ausweitung des EZB-Aufgabenspektrums auseinander:

Kosten für die Steuerzahler? Wenn die Zentralbank in einer Staatsschuldenkrise nicht interveniert, wird es am Ende nötig sein, viele Banken zu stützen, die durch den Wertverlust von Staatsanleihen in ihrem Portfolio vor der Pleite stehen. Darüber sind sich alle Experten einig. Die Bankenrettung könne letztlich aber deutlich teurer werden, schreibt de Grauwe. Schließlich sei die Gesamtverschuldung des Bankensektors um ein Vielfaches höher als die der Staaten. Zudem weist der Wissenschaftler darauf hin, dass für die Zentralbank ohnehin immer ein Risiko bestehe, Verluste zu machen, die letztlich der Steuerzahler tragen muss. Denn bei ihren so genannten Offenmarktgeschäften kauft sie Wertpapiere privater Anbieter, bei denen gleichermaßen ein Ausfallrisiko besteht. Es würde sich daher nichts Grundsätzliches verändern, wenn die EZB ihre Bestände an Staatsanleihen aufstocken würde, wie es etwa die amerikanische Fed oder die Bank of England getan haben.

Inflationsrisiken? Wenn die EZB Staatspapiere kauft, pumpt sie frisches Geld in den Markt. Doch damit müsse sich die Geldmenge insgesamt nicht zwangsläufig erhöhen, erläutert der Wissenschaftler. Denn es gibt einen starken, empirisch gut belegten, Gegeneffekt: In Krisenzeiten vergeben die Geschäftsbanken weniger Kredite. Unter dem Strich würde die Geldmenge insgesamt nicht steigen – und von ihr keine Inflationsgefahr ausgehen.

Einladung zum Schuldenmachen? Damit Regierungen sich nicht einfach darauf verlassen, dass die EZB ihnen stets die Ausgabe neuer Schuldverschreibungen ermöglicht, sollte eine länderübergreifende Institution die Finanzpolitik der Eurostaaten koordinieren und überwachen, schreibt der Ökonom. Dem stehe ein erweiterter EZB-Auftrag jedoch nicht im Wege. De Grauwe beschreibt die Aufgabenteilung zwischen Geld- und Finanzpolitik mit einer Metapher: Der EZB falle die Rolle der Feuerwehr zu, die in die Lage versetzt werden müsse, im Notfall zu löschen. Eine koordinierte Finanzpolitik solle die Rolle von Justiz und Polizei übernehmen, die Brandstiftung bestrafen – oder besser durch präventive Maßnahmen verhindern.

  • Im Gegensatz zu angelsächsischen Zentralbanken hat die EZB bislang nur ausnahmsweise Staatsanleihen erworben. Zur Grafik
  • Der Kapitalmarkt fordert von Spanien trotz geringerer Verschuldung höhere Zinsen als von Großbritannien. Der Ökonom Paul de Grauwe interpretiert die Differenz als Risikozuschlag für Mitglieder der Währungsunion. Sie haben ein höheres Insolvenzrisiko als Länder, die autonom über ihre Währung bestimmen können. Zur Grafik

Paul de Grauwe: The European Central Bank: Lender of Last Resort in the Government Bond Markets? (pdf), CESifo Working Paper No. 3569, September 2011;

ders.: The Governance of a Fragile Eurozone, CEPS Working Document, Mai 2011.

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