Quelle: HBS
Böckler ImpulsGrundsicherung: Existenzminimum ohne Orientierung
Das Sozialrecht bietet keine verlässliche Definition des Existenzminimums: Der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II ist zu niedrig, für Erwerbstätige fehlt jede Untergrenze.
Die Preise für Nahverkehr und Energie sind gestiegen, die GEZ-Freibeträge weggefallen, die Gesundheitsausgaben haben sich erhöht. Obwohl Empfänger des Arbeitslosengeldes II (ALG II) immer mehr Kosten tragen müssen, stagniert der Regelsatz faktisch seit 2003. "Seit der Bund anstatt der Kommunen für die Finanzierung dieser Regelleistung nach dem SGB II zuständig ist, ist sein ökonomisches Eigeninteresse gewachsen, diese Leistungen möglichst gering zu halten", hat Helga Spindler beobachtet. Die Professorin für Sozial- und Arbeitsrecht von der Uni Duisburg-Essen warnt: Angesichts der Sparpolitik bestehe die Gefahr, dass in der Bundesrepublik die nötigen Orientierungspunkte für die Bestimmung eines Existenzminimums von Einzelpersonen verloren gehen.
Das beliebig gewordene Existenzminimum. Die Grundsicherung soll das Existenzminimum garantieren und somit auch Erwerbslose zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen. Weil der ALG-II-Regelsatz unsauber ermittelt wird, bleibt dieser Anspruch oft unerfüllt. Der Satz von zurzeit 347 Euro wird nicht anhand des tatsächlichen Bedarfes ermittelt, wie es etwa im bis 1990 angewendeten Warenkorbmodell noch der Fall war. Als Maßstab dienen vielmehr die Konsumausgaben der unteren Einkommensgruppen aus der Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS). Diese Daten haben jedoch erhebliche Mängel: Es ist nicht bekannt, wie viele Personen aus der Vergleichsgruppe tatsächlich ein höheres Einkommen als das Existenzminimum haben. Bei vielen Rentnern ist das nicht der Fall. Das sozialrechtliche Existenzminimum leitet sich folglich zu einem Gutteil von den Ausgaben von Sozialleistungsempfängern her. Im Ergebnis kommt es zu einer Abwärtsspirale. Aufgrund solcher Defizite halten Experten den vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband ermittelten Regelsatz von 415 Euro für angemessener.
Die Grundsicherung für Arbeitssuchende enthält außerdem seit den Hartz-Gesetzen keine individuellen Zusatzleistungen mehr - mit Ausnahme der Kosten für die Unterkunft inklusive Heizung. In besonderen Lebenslagen - bei Schwangerschaften, Diäten, beruflicher Rehabilitation - gibt es Pauschalen. Die haben laut Spindler aber keine klaren statistischen Bezugsgrößen. Als die vormals individuellen Beihilfen zu Pauschalen umgewandelt wurden, kam es zu verdeckten Kürzungen. Überhaupt keine zusätzliche Unterstützung zum Regelsatz bekommen jene, die sich weiterbilden, intensiv eine Arbeitsstelle suchen oder arbeiten gehen, aber weniger als die Bedürftigkeitsschwelle verdienen.
Die Grundsicherung hat keine Mindestlohn-Funktion. Der Regelsatz der Sozialhilfe und des ALG II wurde nie mit Blick auf den Durchschnitts- oder Medianlohn bestimmt. Und in der Praxis hat die Grundsicherung auch nicht verhindert, dass Löhne unter das Existenzminimum gesunken sind. Das Arbeitslosengeld II schafft keine untere Lohnschwelle, was mit an der ausgeweiteten Möglichkeit eines Zuverdienstes zur Grundsicherung liegt: ALG II ist oft Teil eines faktischen Kombilohns, es wirkt aber nicht wie ein Mindestlohn. Zugleich gibt es auch eine hohe Zahl an Erwerbstätigen mit sehr niedrigem Lohn, die nichts über ergänzende Ansprüche wissen. Irene Becker und Richard Hauser haben im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die Dunkelziffer der Armut in Deutschland untersucht. Ihren Berechnungen zufolge haben über zwei Millionen Menschen in den vergangenen Jahren einen Anspruch auf staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt gehabt, ihn aber nicht eingelöst.
Ein die Existenz sichernder Mindestlohn muss den zusätzlichen Bedarf eines Erwerbstätigen berücksichtigen: Er braucht Geld für Arbeitsweg und -kleidung, er zahlt aufgrund seiner knappen Zeit mehr für Einkauf und Essen. Ein solcher Mindestlohn übersteigt darum das Existenzminimum eines Erwerbslosen. Die Jura-Professorin Spindler zieht für ihre Kalkulation Elemente aus dem Sozial- und Steuerrecht heran, damit das Existenzminimum in den verschiedenen Bereichen stimmig ist. Sie addiert zum ALG-II-Regelsatz und Wohnkosten 100 Euro als Absetz- und 180 Euro als Erwerbstätigenfreibetrag. Das Resultat: Das Existenzminimum eines Erwerbstätigen beträgt beim aktuellen Regelsatz 945 Euro. Zieht man den vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband ermittelten Regelsatz heran, kommt man auf 1.015 Euro. Zwischen diesen beiden Beträgen liegt die Pfändungsfreigrenze von derzeit 985 Euro, also das gesetzlich geschützte Mindesteinkommen einer überschuldeten Person. Wissenschaftler des WSI hatten sich bei ihrem Mindestlohnkonzept an dieser Marke orientiert und waren so auf einen Stundenlohn von 7,50 Euro brutto gekommen.
Helga Spindler: Niveau sozialrechtlicher Existenzsicherung und Mindestlohn in Deutschland, in: WSI-Mitteilungen 6/2007.
Irene Becker, Richard Hauser: Dunkelziffer der Armut, edition sigma, Berlin 2005. Studie zum Download
mehr Infos zum Projekt
Becker, Irene: Bedarfsgerechtigkeit und sozio-kulturelles Existenzminimum. Der gegenwärtige Eckregelsatz vor dem Hintergrund aktueller Daten / Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.).- Frankfurt/M., März 2006.- 12 S.- (Arbeitspapier; Nr. 1). Papier zum Download (pdf)