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HBS Böckler Impuls

Europa: EU-Krisenpolitik verletzt Grundrechte

Ausgabe 14/2015

Im Kampf gegen die Krise setzt die EU nationale Tarifsysteme unter Druck. Damit verstößt sie gegen ihre eigene Grundrechtecharta.

Tarifautonomie gilt in Europa als hohes Gut: Die Charta der Grundrechte der EU garantiert Beschäftigten und Arbeitgebern „das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“. Wie ernst diese Garantie genommen wird, haben Florian Rödl und Raphaël Callsen mit Unterstützung des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht und der Hans-Böckler-Stiftung überprüft. Die Rechtswissenschaftler von der Universität Frankfurt kommen zu dem Ergebnis, dass die Krisenpolitik der EU zum Teil nicht mit dem Grundrecht auf Kollektivverhandlungen vereinbar ist.

Im Fokus der Studie stehen zwei Instrumente der EU-Wirtschaftspolitik: Zum einen haben Rödl und Callsen die Empfehlungen analysiert, die der Europäische Rat im Rahmen des Verfahrens makroökonomischer Überwachung abgegeben hat. Zum anderen haben sie die Mitwirkung der Kommission an den „Memoranda of Understanding“ betrachtet, die mit Krisenstaaten als Voraussetzung für Finanzhilfen ausgehandelt werden. Ihrer Untersuchung zufolge zielen die Empfehlungen und Auflagen konsequent darauf ab, Wettbewerbsfähigkeit durch Senkung von Lohnkosten zu steigern. Entsprechende Flexibilität „nach unten“ sollen Eingriffe in die Tarifsysteme sicherstellen.

Das wirtschaftspolitische Paradigma der EU wird am Umgang mit Griechenland besonders deutlich. Die Auflagen hätten sich von Anfang an nicht nur auf die Tarifstrukturen im öffentlichen Dienst bezogen, sondern auch auf die griechische Privatwirtschaft, so Rödl und Callsen. Verlangt wurde unter anderem, das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung auszusetzen und die maximale Laufzeit von Tarifverträgen zu verkürzen. Darüber hinaus sollte die Zulassung nicht-gewerkschaftlicher Akteure zur Dezentralisierung des Tarifsystems beitragen. Sogar inhaltliche Eingriffe in bestehende Verträge waren vorgesehen: Tarifvertraglich vereinbarte automatische Lohnsteigerungen mussten ausgesetzt werden. Zudem waren Kürzungen des durch nationalen Tarifvertrag vereinbarten Mindestlohns Gegenstand der Vereinbarungen.

Auch Portugal musste sich zu Eingriffen in sein Tarifsystem verpflichten: Unter anderem sollten Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene erleichtert, Allgemeinverbindlicherklärungen erschwert werden. Selbst Staaten, die ohne Finanzhilfen auskommen, müssen damit rechnen, dass ihre Tarifsysteme ins Visier der EU geraten: Belgien sollte nach den Vorstellungen des Rates dafür sorgen, dass sich die Lohnentwicklung an der lokalen Produktivität orientiert. An Frankreich erging die Empfehlung, Abweichungen durch Haustarifverträge zuzulassen. Und Luxemburg wurde eine Reformierung der Lohnfindung einschließlich der Lohnindexierung nahegelegt, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Der Analyse von Rödl und Callsen zufolge fallen sowohl die Empfehlungen des Rates als auch die Mitwirkung der Kommission an den Auflagen für Krisenstaaten in den Bereich der EU-Grundrechtecharta. Dem dort verankerten Grundrecht auf Kollektivverhandlungen habe der Europäische Gerichtshof zwar bislang kaum eigenständigen Gehalt zugebilligt. Tatsächlich handele es sich aber um ein vollwertiges Grundrecht, das allenfalls nach sorgfältiger Abwägung eingeschränkt werden darf. Die Eingriffe der EU in nationale Tarifsysteme seien dagegen vielfach unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Denn unabhängig davon, ob flexiblere Tarifstrukturen als Mittel der Krisenbekämpfung geeignet sind, fehle es vielen Maßnahmen an der „Erforderlichkeit“, weil „gleichermaßen effektive und doch mildere Mittel zur Verfügung stehen“. Die Juristen weisen insbesondere auf drei Versäumnisse hin: Erstens dürften Eingriffe in Tarifsysteme nicht ohne Einbeziehung der Sozialpartner durchgesetzt werden. Zweitens wäre es geboten, Maßnahmen zur Bewältigung einer akuten Krise zeitlich zu begrenzen. Drittens seien in Einzelfällen „Regelungen zur Milderung besonderer Härten“ vorzusehen. Der Weg für Klagen gegen die Krisenpolitik der EU steht den Autoren zufolge damit sowohl den betroffenen Staaten als auch den Tarifparteien offen.

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