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HBS Böckler Impuls

Digitalisierung: "Es braucht den Willen zur Regulierung"

Ausgabe 14/2017

Was bedeutet die Digitalisierung für die Beschäftigten? Darüber spricht Kerstin Jürgens. Die Soziologin hat die Böckler-Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ geleitet.

Einige Sozialwissenschaftler fürchten, mit der Digitalisierung kehren frühste Formen kapitalistischer Ausbeutung wieder. Werden Crowdworker ausgepresst wie einst die Heimarbeiter?

So pauschal stimmt das nicht. Manche Arbeitende erfahren eine Aufwertung und Verbesserung ihrer Arbeitssituation. Wer mit seinen Fähigkeiten stark nachgefragt wird, kann mitunter weit bessere Konditionen für sich aushandeln als in einem klassischen Beschäftigungsverhältnis – und ist orts- und zeitsouveräner. Bislang gilt dies aber nur für die kleinere Gruppe. Die Mehrheit der Crowd erlangt nur Zuverdienste im Nebenerwerb. Oft liegen die Stundenlöhne unter dem Mindestlohn; die Arbeit ist oft zerlegt und wird rigide kontrolliert. Mehr Absicherung könnte ein Bestellerprinzip bieten: Wenn ein deutsches Unternehmen Aufträge vergibt, müsste demnach auch deutsches beziehungsweise EU-Recht gelten; zu klären wäre dann, ob für alle oder nur Personen aus der EU.

Warum tun sich Crowdworker so schwer, ihre Interessen gemeinsam durchzusetzen? 

Die Crowd provoziert als weltweite Konkurrenz einen Unterbietungswettbewerb, Ansprüche an Arbeit und Entgelt werden dann reduziert. Man kann sich zwar zusammentun und den Spieß umdrehen, also auch die Auftraggeber bewerten, aber generell vollzieht sich eine Vermarktlichung von Arbeitskraft, die weit über das hinausreicht, was wir bisher gesehen haben. Die Brisanz liegt darin, dass dieses Prinzip auf die jetzt noch betrieblich organisierte Arbeit ausstrahlt: Es entsteht Konkurrenz für die vor Ort Arbeitenden – und in neuen internen Start-ups gelten niedrigere Standards.

In vielen Betrieben nimmt die Überwachung der Beschäftigten erschreckende Ausmaße an. Wer wagt es noch aufzumucken, wenn jede Bewegung und jede Tastatureingabe aufgezeichnet werden? 

Digitale Technologien sind eine große Hilfe, weil wir ortsunabhängig gemeinsam an Dingen arbeiten können. Das Paradox ist: Es gibt exzellente Formate für gemeinsame Aktionen, aber alle sitzen allein an ihren Endgeräten, arbeiten mobil und teilen Erfahrungen nicht mehr ganzheitlich mit anderen. Gemeinsamer Protest bleibt daher oft aus. Umso wichtiger ist die Stärkung individueller Rechte, zum Beispiel auf Mitbestimmung oder Transparenz in Abläufen. Regeln zu Datenschutz, Mindestlöhnen und für einen nachhaltigen Arbeitseinsatz verschaffen hier Klarheit, müssen aber in der internen und externen Plattformarbeit erst durchgesetzt werden.

Steht eine Entmenschlichung der Arbeitswelt bevor, wenn immer mehr Entscheidungen von Maschinen getroffen werden?

Das Ausmaß, in dem Algorithmen schon jetzt unser Leben und unsere Entscheidungen beeinflussen, wird weithin unterschätzt. Warum akzeptieren wir, nur von den Neuerungen zu profitieren, wenn wir unser Recht auf Eigentum oder Privatheit preisgeben? Wir erzeugen Daten, die für diverse Geschäftsmodelle genutzt werden, ohne dass wir darüber informiert oder – das spricht gar keiner mehr aus – an den Gewinnen beteiligt würden. In der Kommission plädieren wir deshalb für neue Datenschutzregeln und eine Änderung im Eigentumsrecht, das auf Daten ausgeweitet werden muss. In der Arbeitswelt wird Digitalisierung als Argument herangezogen, um Standards abzusenken oder gänzlich abzuschaffen. Wir erleben das wiederholt beim Streit um das Limit der Arbeitszeit. Dies alles hat aber nichts mit Technologien zu tun, sondern offenbart nur bekannte Interessenkonflikte: Sollen Maschinen unsere Arbeitsprozesse anreichern und Belastungen reduzieren oder den Menschen schlicht ersetzen? Wir müssen eine gemeinsame Vision entwickeln, welchen Technologieeinsatz wir uns wünschen und wo wir Grenzen der Nutzung sehen. 

Stoßen die klassischen Formen der Interessenvertretung – Gewerkschaften, Betriebsräte – in der digitalen Wirtschaft an ihre Grenzen? 

Je schwieriger sich die Lage der Arbeitenden darstellt, desto dringlicher werden Interessenvertretungen wie Gewerkschaften. Es geht also vor allem um die Frage, ob Gewerkschaften die Menschen dort erreichen, wo sie sich bewegen und austauschen. Das kann nach wie vor der konkrete Arbeitsplatz sein, aber man sollte auch den digitalen Wegen folgen und dort Foren für Interessenaustausch einrichten. Gute Beispiele dafür gibt es ja, zum Beispiel die Onlineplattform Faircrowdwork. Technologische Innovationen sind allesamt mit einem Freiheitsversprechen verknüpft. Gewerkschaften sind der ideale Akteur, um dies auf den unterschiedlichsten Ebenen einzufordern. Der Gesetzgeber muss den Rahmen dafür schaffen.

Hat die Digitalisierung aus Arbeitnehmersicht auch positive Folgen?

Missstände lassen sich heute jederzeit öffentlich machen. Es lässt sich mehr Transparenz in viele Prozesse und Verhandlungen bringen. Die Beteiligung der Basis ist viel einfacher, aber deshalb auch immer wichtiger. Bei der konkreten Arbeit können viele Belastungen weiter reduziert werden, und es entsteht Spielraum für Arbeiten, die gegenwärtig wegen hohen Zeitdrucks vernachlässigt werden, etwa in der Patientenbetreuung. Diese positiven Effekte stellen sich aber nicht von selbst ein. Es braucht einen unbedingten Willen zur Regulierung der nun digitalisierten Wirtschaft. Nötig ist ein aktiver Staat, der die Transformation in die Bahn einer nachhaltigen und sozialen Marktwirtschaft lenkt.

  • Über zwei Millionen Menschen arbeiten als Unternehmer ohne Angestellte. Zur Grafik

Das geltende Arbeitsrecht kennt im Wesentlichen Arbeitnehmer und Unternehmer. Die diversen Zwischenformen – Soloselbstständige, die faktisch genauso abhängig von ihren Auftraggebern sind wie Arbeitnehmer, aber weniger soziale Schutzrechte genießen – fallen zu einem großen Teil durch das Rost. Dabei werden solche Erwerbsverhältnisse in Zeiten der digitalen Plattformökonomie zunehmen. Das hat die von der Hans-Böckler-Stiftung eingesetzte Expertenkommission zur Arbeit der Zukunft herausgearbeitet. Um den Status der Menschen in prekärer Selbstständigkeit zu verbessern, müsse der Arbeitnehmerbegriff neu gefasst werden. Ein Anknüpfungspunkt könnte den Experten zufolge die bereits existierende Kategorie der „arbeitnehmerähnlichen Person“ sein, die aber bislang nur auf eine relativ kleine Gruppe angewandt wird, vor allem auf sogenannte feste Freie im Medienbereich. Sie haben im Gegensatz zu anderen Selbstständigen unter anderem Anspruch auf Urlaub und können Tarifverträge abschließen. Das Ziel müsse es sein, so die Expertenkommission, die Rechte der Grenzgänger zwischen Selbstständigkeit und Arbeitnehmerstatus weiter auszubauen und auf weitere Personengruppen wie Crowdworker auszudehnen. Das Arbeitsrecht in anderen Ländern zeige dafür interessante Anknüpfungspunkte. 

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