Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Erfolgsmodell Mitbestimmung
Mitsprache der Arbeitnehmer ist in Europa weit verbreitet. Allerdings versuchen Firmen, sich ihren Pflichten zu entziehen. Mindeststandards auf europäischer Ebene könnten das verhindern.
In der Mehrheit der europäischen Länder gibt es Regeln, die Arbeitnehmern die Mitsprache in Führungsgremien von Unternehmen garantieren. In insgesamt 19 von 31 Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) dürfen Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsrat mitentscheiden. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse von Aline Conchon für das European Trade Union Institute (ETUI).
Arbeitnehmervertretungen seien so weit verbreitet, dass sie als „zentrale Komponente des europäischen Sozialmodells“ gelten können, schreibt die Autorin. Anders als häufig angenommen sei die Mitbestimmung nicht an eine dualistische Unternehmensführung geknüpft, bei der Geschäftsführung und Aufsichtsrat voneinander getrennt sind. Auch in Ländern, in denen Unternehmen traditionell über ein einziges Führungsgremium verfügen, könnten Beschäftigte mitreden, etwa in Frankreich, Norwegen oder Schweden. In den allermeisten Ländern seien die Regeln rechtlich bindend. Das heißt: Ein Unternehmen, das die Voraussetzungen erfüllt, ist dazu verpflichtet, Arbeitnehmer in sein Führungsgremium aufzunehmen. Eine Ausnahme stellten die nordischen Länder dar. Dort könnten die Arbeitnehmer oder die in den Unternehmen präsenten Gewerkschaften selbst entscheiden, ob und wie sie ihre Rechte wahrnehmen möchten.
Mitbestimmung nicht nur in Deutschland
„Die Art und Weise, in der die Arbeitnehmervertretung mit Entscheidungsbefugnis im Verwaltungs- beziehungsweise Aufsichtsrat in verschiedenen europäischen Ländern funktioniert, weist beträchtliche Unterschiede auf“, so die Autorin. Dennoch ließen sich drei Gruppen gut unterscheiden:
13 Länder haben weitreichende Mitbestimmungsrechte, die im öffentlichen wie im privaten Sektor gelten, also in staatlichen Unternehmen, Aktiengesellschaften und GmbHs. Dazu zählen Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowakei, Slowenien und Ungarn.
In sechs Ländern beschränken sich die Mitwirkungsrechte auf staatliche Unternehmen. Dies gilt für Griechenland, Irland, Polen, Portugal, Spanien und Tschechien. In Polen gibt es Mitbestimmung zudem in ehemaligen Staatskonzernen.
Zwölf Länder sehen fast keine Beteiligung der Arbeitnehmer vor: Belgien, Bulgarien, Estland, Großbritannien, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Malta, Rumänien und Zypern.
Die Regeln in den einzelnen Ländern seien nicht statisch, sondern wandelten sich ständig, betont Conchon. Insbesondere die längst noch nicht überall bewältigte Finanzkrise könne weitere Veränderungen nach sich ziehen – im Guten wie im Schlechten: „In den derzeit turbulenten Zeiten könnte die Förderung von mehr Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung in der Corporate Governance deshalb ein wichtiges Mittel sein, die Unternehmen zum Überleben und Wachsen zu befähigen“, schreibt Conchon. Es gebe Belege dafür, dass europäische Länder mit weitreichenden Mitbestimmungsrechten eine deutlich bessere wirtschaftliche Entwicklung zeigen als Länder mit vergleichsweise wenigen Rechten. Das zeige das Beispiel Deutschland: Dass die Bundesrepublik besonders gut durch die Krise gekommen ist, sei unter anderem dem deutschen Mitbestimmungssystem zu verdanken. Auch das Europäische Parlament und die EU-Kommission hätten anerkannt, dass die Beteiligung von Arbeitnehmern helfen könnte, Krisen zu vermeiden.
Trotzdem sei die Mitbestimmung gerade in den am stärksten von der Krise betroffenen Nationen geschwächt worden. Besonders in Irland, Griechenland und Spanien seien viele Unternehmen auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank privatisiert worden. Mit der Privatisierung sei die Mitbestimmung in den betroffenen Firmen praktisch abgeschafft worden, da Arbeitnehmervertreter in diesen Ländern ausschließlich in Staatsunternehmen vorgesehen seien. Mitunter schränken auch die nationalen Gesetzgeber das Recht auf Mitsprache ein, so wie in Tschechien: Das tschechische Parlament habe 2012 ein neues Gesellschaftsgesetz verabschiedet, das die bis dahin obligatorische Beteiligung von Arbeitnehmern in Privatunternehmen außer Kraft setzte.
Rechtsform verhindert Mitbestimmung
Auf gesamteuropäischer Ebene droht ebenfalls Gefahr: Es zeichne sich ein „regulatorischer Wettbewerb“ ab, konstatiert Conchon. Unternehmen hätten die Möglichkeit, „sich verschiedene einzelstaatliche regulatorische und gesetzliche Rahmen anzusehen“, um schließlich den mit den weichsten Vorgaben auszuwählen. Die Verpflichtung, eine Arbeitnehmervertretung einzusetzen, lasse sich auf diese Weise umgehen. So könnten Unternehmen ihren Firmensitz in einem „arbeitnehmervertreterfreien“ Land – zum Beispiel als britische Aktiengesellschaft – eintragen lassen. Nach Daten der Hans-Böckler-Stiftung bedienen sich bereits heute 94 deutsche Unternehmen einer ausländischen Rechtsform, sie firmieren beispielsweise als „Ltd. & Co. KG“. Durch eine Lücke im deutschen Mitbestimmungsgesetz gibt es bei diesen Firmen im Aufsichtsrat keinerlei Mitbestimmung mehr.
Durch die geplante sogenannte Ein-Personen-Gesellschaft (Societas Unius Personae, SUP) könnte die Flucht vor der Mitbestimmung künftig sogar noch angeheizt werden. Die EU-Kommission will die Ein-Personen-Gesellschaften einführen, um eine europäische Rechtsform zu schaffen, die auch von kleinen und mittleren Unternehmen genutzt werden kann. Auch die Gründung von Tochtergesellschaften im Ausland soll vereinfacht werden. Tatsächlich würde die EU dadurch „die Gründung von Briefkastenfirmen“ erleichtern, meint Conchon. Unternehmen könnten damit unter einem vermeintlich seriösen Deckmantel ihren rechtlichen Firmensitz und den Ort des operativen Geschäfts voneinander trennen – und sich aussuchen, unter welches nationale Gesellschaftsrecht sie fallen.
Andererseits gebe es Forderungen aus Politik und Gewerkschaften nach einer Stärkung der Beteiligung von Arbeitnehmern. Der Europäische Gewerkschaftsbund habe vorgeschlagen, dass Mitbestimmungsrechte in ganz Europa und für alle europäischen Gesellschaftsformen gelten sollten. Über eine EU-Richtlinie ließe sich ein Mindeststandard sicherstellen. Weitergehende nationale Mitbestimmung bliebe hierbei unberührt.
Aline Conchon: Die Mitsprache der Arbeitnehmer in der Corporate Governance. Eine europäische Perspektive, ETUI Bericht 135, Dezember 2015
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Die Analyse von Aline Conchon fußt auf einem Forschungsprojekt, das die Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat. Mehr dazu beinhaltet die aktuelle Veröffentlichung: Jeremy Waddington and Aline Conchon: Board-level Employee Representation in Europe. Priorities, Power and Articulation, New York, 2016
Bestimmte Rechtsformen erlauben die Umgehung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Aktuell nutzen 94 deutsche Firmen diese Rechtslücke, zeigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung.
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