Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitswelt: Entfremdung 4.0
Arbeit soll nicht nur Einkommen, sondern auch Sinn stiften. Ob sie das wirklich tut, hängt stark von der Arbeitsorganisation, persönlichen Freiräumen und Möglichkeiten zur Mitbestimmung ab.
Am Ende des Arbeitstages nichts als innere Leere. Das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben, will sich nicht einstellen – ganz anders als bei der Gartenarbeit oder beim Kuchenbacken. Eine theoretische Erklärung für dieses Phänomen hat Karl Marx schon vor 180 Jahren vorgelegt: Der kapitalistische Produktionsprozess „entfremdet“ die Beschäftigten von ihrer Arbeit und den hergestellten Produkten. Abgesehen vom lebensnotwendigen Lohn verliert die Arbeit für sie jeden Sinn. Gilt diese Diagnose noch heute? Dieser Frage sind Sozialwissenschaftler in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Arbeit“ nachgegangen. Die Befunde sind gemischt: Einerseits empfindet die große Mehrheit der Arbeitnehmer ihren Job durchaus als sinnstiftend. Andererseits ist Entfremdung nach wie vor ein Thema – besonders dort, wo Beschäftigte strikt überwacht werden und nichts zu entscheiden haben. Selbst in solchen Fällen finden sie allerdings häufig einen Weg, ihrer Arbeit zumindest einen gewissen Sinn abzugewinnen.
Nur ein Rädchen im Getriebe
Laut DGB-Index Gute Arbeit identifizieren sich mehr als 80 Prozent der Beschäftigten mit ihrer Arbeit; zwei Drittel glauben, durch ihren Job einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Andere Untersuchungen zeigen, dass die Arbeit für viele einen höheren Stellenwert hat als ihre Freizeit. Daraus lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres schließen, dass in der Arbeitswelt alles in Ordnung ist. Denn in einer Gesellschaft, in der „Nicht-Arbeit erklärungsbedürftig“ ist, wie der Erfurter Soziologe und Philosoph Christoph Henning formuliert, besteht ein großer Konformitätsdruck: Eigene und fremde Erwartungen hindern viele daran, grundsätzliche Zweifel am ausgeübten Job zu äußern. Gerade höher Qualifizierte sähen sich trotz zunehmender Arbeitsverdichtung und -überwachung obendrein der „Zumutung“ ausgesetzt, „sich stets als kreativ und selbstbestimmt darzustellen“. In Extremfällen kommt die mehr oder weniger verdrängte Sinnfrage erst mit dem Burnout zum Ausdruck. Dann wird die Entfremdung offensichtlich.
Henning zufolge stellen die Marx’schen Vorstellungen „noch immer das relevanteste Theorieangebot zur Entschlüsselung von Entfremdungserfahrungen dar“. Dass der Begriff in der jüngeren Vergangenheit kaum noch benutzt wurde, liegt nach seiner Analyse keineswegs daran, dass er wissenschaftlich überholt wäre. Es sei lediglich aus der Mode gekommen, mit Marx zu argumentieren. Das Grundproblem bestehe in weiten Teilen der Wirtschaft bis heute fort, so der Wissenschaftler: Ohne relevante Gestaltungsspielräume Produkte für einen anonymen Markt herzustellen, das eigene Berufsethos betriebswirtschaftlichen Zwängen unterzuordnen, nicht Teil einer kooperativen Gemeinschaft, sondern nur ein Rädchen im Getriebe zu sein – dies macht aus Menschen bloße Verkäufer ihrer Arbeitskraft. Moderne Formen der Arbeitsorganisation hätten solche Zustände keineswegs überall überwunden. Im Gegenteil: In einigen Wirtschaftsbereichen würde die Entfremdung eher zunehmen. Als Beispiel nennt Henning die stetig wachsenden Dokumentationspflichten in der Pflegebranche oder die Überwachung der Mitarbeiter in Callcentern und Supermärkten. Hier schrumpfen die persönlichen Freiräume bei gleichzeitiger Erhöhung des Zeitdrucks immer weiter.
Selbstgemachter Sinn
Trotz zuweilen höchst unbefriedigender Arbeitsbedingungen sehen viele Beschäftigte zumindest auf einer abstrakteren Ebene einen Sinn in ihrer Arbeit. Gerade diejenigen, die sogenannte einfache Arbeit verrichten, betonen häufig deren „Notwendigkeit und Nützlichkeit“. Darauf weist Stephan Voswinkel vom Frankfurter Institut für Sozialforschung hin. Sie „kompensieren damit oftmals, dass sie ihre Arbeit nicht als Selbstverwirklichung verstehen können“. Eine weitere Möglichkeit, sich mit dem Job zu arrangieren, besteht darin, sich auf Geld und Karriere zu konzentrieren, womit eine „subjektive Entwertung der Arbeit“ verbunden ist, wie Voswinkel schreibt. Einen anderen Weg wählen Beschäftigte, die der Arbeit auf spielerische Weise einen neuen Sinn verleihen. So kann die monotone Akkordarbeit zum Geschicklichkeitsspiel werden oder der Pizzabäcker wird zum Künstler, indem er den Teig virtuos durch die Luft schleudert und wieder auffängt. Ein anderes Beispiel: Angestellte im Supermarkt sind zwar stets freundlich und hilfsbereit, betrachten ihre Arbeit insgeheim aber als Kampf gegen die Kundschaft, die Waren durcheinanderbringt und potenziell stiehlt. Eine mögliche Strategie der persönlichen Sinngebung besteht auch in „Sabotage“ unterhalb der Wahrnehmungsschwelle: Beschäftigte nutzen die trotz aller Kontrollen verbleibenden Spielräume, um kleine Abweichungen in Produkte oder Dienstleistungen einzubauen, die der Auftraggeber nicht bemerkt.
Sinnvolle Arbeit muss auch sinnvoll ausgeführt werden
Ob Erwerbsarbeit als befriedigend empfunden wird oder nicht, hängt allerdings nicht nur von der Aufgabe an sich ab, sondern auch von der konkreten Ausführung. Sprich: Es reicht nicht, einen grundsätzlich als nützlich empfundenen Job zu haben. Er sollte sich auch in sinnvoller Weise erledigen lassen. Wo irrwitzige Routinen und Vorschriften „sinnzerstörend wirken“, ist die Motivation der Beschäftigten in Gefahr. Dies zeigt sich etwa in einer empirischen Untersuchung von Forschern der FU Berlin, die das Sicherheitspersonal an Flughäfen befragt haben. Die große Mehrheit der dort Beschäftigten ist zwar der Auffassung, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die letztlich dem Schutz von Menschenleben dient. „Fehlende Anerkennung durch Kunden und Vorgesetzte, Überwachung und Sanktionen“ machen den Luftsicherheitsassistenten jedoch zu schaffen. Frust entsteht zum Beispiel, wenn vorgesetzte Polizisten die Sicherheitsdienste zwar zu strengster Auslegung der Bestimmungen anhalten, deren Entscheidungen im Einzelfall aber wieder aufheben und Passagiere mit eigentlich unzulässigem Handgepäck durchwinken.
Neben dem Gefühl, dass andere von der eigenen Arbeit profitieren, gewissen Entscheidungsspielräumen und der Möglichkeit, eine begonnene Tätigkeit selbstständig zu Ende bringen zu können, tragen positive Rückmeldungen entscheidend zur Arbeitszufriedenheit bei, wie zahlreiche arbeitssoziologische Studien zeigen. Von all diesen Faktoren hängt nicht nur die Identifikation mit dem Arbeitgeber ab. Sie bestimmen auch über mögliche Kündigungsabsichten und Gesundheitsrisiken. Das bestätigt unter anderem eine Studie der Sozialpsychologen Rolf van Dick und Sebastian Stegmann von der Universität Frankfurt, die Beschäftigte aus verschiedenen Branchen wie Einzelhandel, Gastronomie, Tourismus oder Bildung befragt haben.
Solche Untersuchungen zeigen: Mindestens ebenso wichtig wie die Frage nach dem Zweck der Arbeit ist die Frage nach den Arbeitsbedingungen. Prekäre, kurzfristige Arbeitsverhältnisse „erschweren das Reifen beruflicher Identität“, schreibt Voswinkel. Als Mittel, der Entfremdung entgegenzuwirken, empfiehlt Henning „mehr Mitbestimmung über Inhalte und Formen der Arbeit“. Arbeitszeitverkürzung und Gleichstellung von Leiharbeitern mit Stammbeschäftigten sind andere Beispiele. Hilfreich ist jedoch nicht alles, was auf den ersten Blick arbeitnehmerfreundlich wirkt, warnt der Forscher. Eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeiten kann zwar individuellen Interessen entgegenkommen, aber auch zur Selbstausbeutung einladen. Selbst wenn dies nicht immer so empfunden werde, bleibe der bis zur Erschöpfung arbeitende Mensch fremdbestimmt. Daher sei es wichtig, Grenzen zu ziehen. Zum Beispiel: Keine dienstlichen E-Mails in der Freizeit, keine Arbeit mit nach Hause nehmen. Auf diese Weise bekommen Beschäftigte letztlich „die Möglichkeit, persönliche Ambitionen aus der Lohnarbeit abzuziehen, was weniger angreifbar macht für eine Ausbeutung des subjektiven Arbeitspotenzials“ – und der Entfremdung von sich selbst vorbeugt.