Verteilung: Einkommen driften weiter auseinander
Der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen sinkt auf einen historischen Tiefstand. Schlechte Aussichten für Wachstum und Armutsbekämpfung, diagnostiziert der neue WSI-Verteilungsbericht.
Das Kaufkraftpotenzial der abhängig Beschäftigten, gemessen an der Nettolohnquote, ist 2005 erneut zurückgegangen - auf nur noch 41,2 Prozent des privat verfügbaren Volkseinkommens. Das ist der niedrigste Wert seit dem Jahr 1960. Gründe für den Schwund: die Arbeitslosigkeit, allgemein niedrige Lohnzuwächse, die Ausbreitung des Niedriglohnsektors und die noch von der rot-grünen Koalition beschlossene Extra-Belastung der Arbeitnehmer bei der Gesetzlichen Krankenversicherung. Weiterhin niedrige Masseneinkommen aber belasten die Binnennachfrage und schaden dem Wachstum, so die Analyse des WSI-Verteilungsexperten Claus Schäfer.
Eine Trendwende ist unter der neuen Regierung und trotz besserer Wirtschaftsdaten nicht in Sicht. Im Gegenteil: Der Wissenschaftler hält es für möglich, dass für das ganze Jahr 2006 die Nettolohnquote sogar unter die Marke von 40 Prozent rutscht. Während die Arbeitseinkommen an Boden verlieren, legen die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen erneut zu. Mittlerweile machen die Gewinneinkommen, die überwiegend einer relativ kleinen Personengruppe zufließen, etwa ein Drittel des privat verfügbaren Volkseinkommens aus. Ursache für das aktuelle Wachstum sind die guten Ergebnisse vieler Unternehmen.
Das "anhaltende Auseinanderdriften" bei der Einkommensverteilung hat aber auch mit der Finanzpolitik zu tun. Der Entlastungseffekt durch die rot-grüne Einkommensteuerreform scheine bei den Arbeitnehmereinkommen "schon wieder abzuklingen" - im ersten Halbjahr 2006 stieg ihre Steuerbelastung wieder leicht auf 18 Prozent. Parallel erhöhte sich die Last der Sozialabgaben auf 17,4 Prozent. Die durchschnittliche Steuerbelastung der privaten Gewinn- und Kapitaleinkommen wuchs zwar auch - auf sechs Prozent 2005. Doch damit bleibt sie nach wie vor "auf einem sehr niedrigen Niveau", betont Schäfer.
Die weiteren fiskalischen Vorhaben der großen Koalition - etwa Mehrwertsteuererhöhung und Unternehmensteuersenkung - "werden die Ungleichheit weiter vergrößern, vor allem niedrige Einkommen erneut schmälern", warnt der Verteilungsexperte. Insbesondere die schon hohe Armutsquote in Deutschland werde weiter steigen.
Claus Schäfer: Unverdrossene "Lebenslügen-Politik" - Zur Entwicklung der Einkommensverteilung,
in: WSI Mitteilungen 11/2006