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Interessenvertretung: Eine Arbeitskammer für alle?

Ausgabe 10/2023

Gewerkschaften kümmern sich um die Interessen von Beschäftigten. Arbeitskammern könnten sie dabei unterstützen.

Arbeitskammern könnten das bestehende System der Arbeitsbeziehungen ergänzen. Sie stünden nicht in Konkurrenz zu den Gewerkschaften, sondern würden diese stärken, heißt es in einer Analyse von Thorsten Schulten und Martin Behrens vom WSI.

Eine Arbeitskammer ist eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, die die Interessen der Beschäftigten vertritt. Die Idee stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die ersten Arbeitskammern sollten ein Gegengewicht „zur Übermacht der Kapitalseite“ bilden. Freiwillige Interessenvertretungen waren bis Ende des 19. Jahrhunderts sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Beschäftigtenseite kaum vorhanden. 1920 wurde in Österreich erstmals ein nationales System von Arbeitskammern gesetzlich verankert. Luxemburg folgte 1924. In Deutschland wurde 1921 eine Arbeitskammer in Bremen gegründet, während im Saarland – damals noch als „Saargebiet“ vom Völkerbund verwaltet – 1925 zunächst eine von Beschäftigten und Unternehmen gemeinsam getragene Arbeitskammer entstand, die Anfang der 1950er-Jahre in eine reine Arbeitnehmervertretung umgewandelt wurde.

Arbeitskammern haben die Aufgabe, die Beschäftigten zu beraten und gegenüber der Politik zu vertreten. Das breit gefächerte Beratungsangebot richtet sich an alle Kammermitglieder und darüber hinaus auch an Arbeitslose. Die Kammern verfügen über umfassende Anhörungs- und Konsultationsrechte und haben teilweise sogar die Möglichkeit, selbst Gesetzesinitiativen einzubringen. Die Mitgliedschaft ist in der Regel für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Zuständigkeitsbereich der Kammer verpflichtend. Die demokratische Legitimation der Kammern ergibt sich unmittelbar aus ihrem gesetzlichen Auftrag und ihrem Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Kritik an der sogenannten „Zwangsmitgliedschaft“ wurde vom Bundesverfassungsgericht stets zurückgewiesen.

In jüngster Zeit wird verstärkt diskutiert, ob die flächendeckende Einrichtung von Arbeitskammern – wie in Österreich – auch in Deutschland sinnvoll wäre. Im österreichischen Modell bilden Betriebsräte, Arbeitskammern und Gewerkschaften drei Säulen der Interessenvertretung, schreiben Schulten und Behrens. Dabei bleibe es die originäre Aufgabe der Gewerkschaften, die Verteilungs- und Partizipationsansprüche der Beschäftigten im Rahmen von Tarifverhandlungen durchzusetzen und ihnen notfalls auch mit Streiks Nachdruck zu verleihen.

Die SPD in Nordrhein-Westfalen hat in ihrem Wahlprogramm zur Landtagswahl 2017 gefordert, „gemeinsam mit den Gewerkschaften und unter Wahrung ihrer Tarifhoheit  die Einrichtung einer Arbeitskammer nach dem Vorbild des Saarlandes zu prüfen“. In Thüringen sieht der aktuelle Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Landesregierung vor, die Einrichtung einer Arbeitskammer „unter Einbeziehung der Gewerkschaften“ zu prüfen. Im Gegensatz zu früheren Debatten hätten sich die Gewerkschaften grundsätzlich positiv zu einer möglichen Arbeitskammer in Thüringen positioniert und bereits erste Umsetzungsschritte skizziert, schreiben Schulten und Behrens. Sollte es in Thüringen tatsächlich zur Gründung einer Arbeitskammer kommen, sei davon auszugehen, dass entsprechende Diskussionen und Initiativen auch in anderen Bundesländern an Dynamik gewinnen. 

Der Einfluss der Gewerkschaften könnte durch Arbeitskammern gestärkt werden, betonen die Wissenschaftler. Zum einen würden zusätzliche Ressourcen für die Interessenvertretung der Beschäftigten mobilisiert. Zum anderen könnten Gewerkschaften eigene Kräfte stärker auf Kernbereiche wie Organisation und Tarifpolitik konzentrieren. Profitieren würden vor allem Beschäftigte, die sonst nur schwer erreicht werden, weil sie in Kleinbetrieben, Branchen mit geringer Tarifbindung oder prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten.
 

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