Quelle: HBS
Böckler ImpulsUSA: Ein Land verliert seine Mitte
Seit den 1970er-Jahren ist die Mittelschicht in den USA geschrumpft. Der Anteil der Reichen und der Armen ist gewachsen. Besonders benachteiligt: Schwarze, unverheiratete Frauen mit Kindern und junge Amerikaner.
Die Einkommen in den USA driften auseinander: In den vergangenen Jahrzehnten ist sowohl der Anteil der Einkommensschwachen als auch der Besserverdienenden immer weiter gestiegen. Die Mittelschicht hat dagegen an Boden verloren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Rakesh Kochhar, Richard Fry und Molly Rohal vom Pew Research Center in Washington. „In der amerikanischen Gesellschaft ist eine massive Polarisierung im Gange“, schreiben die Wissenschaftler.
Seit den 1970er-Jahren ist der Anteil der Haushalte mit mittlerem Einkommen in jedem Jahrzehnt gefallen. 120,8 Millionen Erwachsene zählen heute zur Mittelschicht. Sie macht damit etwas weniger als 50 Prozent der Bevölkerung aus, verglichen mit 61 Prozent im Jahr 1971. Anders als früher stellt die Mittelschicht also nicht mehr die Mehrheit. Zur Oberschicht werden heute 51 Millionen Amerikaner gerechnet, zur Unterschicht 70,3 Millionen.
Nach Definition der Forscher zählt ein Haushalt zur Mittelschicht, wenn er über ein Einkommen verfügt, das zwischen zwei Dritteln und dem Doppelten des mittleren Haushaltseinkommens liegt. Bei einer dreiköpfigen Familie wären das 42.000 bis 126.000 Dollar, bei einem Ein-Personen-Haushalt 24.000 bis 73.000 Dollar.
Fast die Hälfte aller Einkommen konzentriert sich mittlerweile auf die reichen Haushalte – sie erhalten beinahe genauso viel wie alle anderen zusammen. Seit 1970 ist ihr Anteil am Gesamteinkommen um 20 Prozentpunkte gewachsen. In gleichem Maße hat die Mittelschicht verloren: Auf sie entfallen aktuell 43 Prozent der gesamten Einkommenssumme, 19 Prozentpunkte weniger als früher. Wenig geändert hat sich für die Unterschicht: Damals wie heute bekommt sie mit rund 9 Prozent den kleinsten Teil des Kuchens. „Diese Verschiebung kommt dadurch zustande, dass die einkommensstarken Haushalte einen größeren Anteil an der gesamten Bevölkerung ausmachen, und dadurch, dass ihre Einkommen schneller steigen als die der anderen Schichten“, schreiben die Forscher.
Die Reichen sind also nicht nur mehr, sondern auch noch reicher geworden, während die Armen vergleichsweise wenig hinzugewonnen haben: Die Einkommen der Oberschicht sind seit 1970 um real 47 Prozent gestiegen, die der Unterschicht nur um 28 Prozent. Die Mittelschicht verzeichnete einen Zuwachs von 34 Prozent. Die Finanzkrise hat die Polarisierung noch verstärkt: Diejenigen, die ohnehin nicht viel verdienen, waren die größten Verlierer. Die Einkommen der Armen sind zwischen 2000 und 2014 um 9 Prozent gefallen, die der Mittelschicht um 4 Prozent. Am wenigsten hat die Oberschicht mit 3 Prozent verloren.
Alleinerziehende Frauen besonders benachteiligt
Hinzu kommen Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen: 43 Prozent der Schwarzen gehören der Unterschicht an. Zwar hat sich die Situation seit 1970 leicht verbessert, damals lag der Anteil noch bei 48 Prozent. Dennoch sind Schwarze nach wie vor stark benachteiligt. Zum Vergleich: Von allen Weißen befinden sich „nur“ 23 Prozent am unteren Ende der Einkommensverteilung.
Im Vergleich verschiedener Generationen sind Amerikaner über 65 Jahre die größten Gewinner. Diese Altersgruppe ist die einzige, deren Anteil an der unteren Einkommensgruppe geschrumpft ist – und die damit besser dran ist als früher. Es ist daher kein Zufall, dass die Armutsquote bei Menschen ab 65 Jahren von knapp 25 Prozent im Jahr 1970 auf 10 Prozent in 2014 gesunken ist. Junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren müssen dagegen deutlich häufiger mit einem niedrigen Einkommen leben.
Betrachtet man Geschlecht und Familienstand, zeigt sich: Unverheiratete Frauen mit Kindern haben das größte Armutsrisiko. Mehr als 50 Prozent von ihnen gehören rechnerisch der Unterschicht an. Das war bereits in den 1970er-Jahren so – an der Benachteiligung von alleinerziehenden Frauen hat sich über die Jahre kaum etwas geändert.
INFOBOX:
Ungleichheit in Deutschland
In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Tendenz wie in den USA: Im jüngsten Verteilungsbericht des WSI heißt es, die Verteilung der Einkommen sei in den letzten drei Jahrzehnten deutlich ungleicher geworden – und zugleich habe sich die Chancengleichheit verringert. Insbesondere in den 2000er-Jahren sei die Schere auseinander gegangen. Arme blieben heute in Deutschland mit höherer Wahrscheinlichkeit arm, Reiche reich.
Dorothee Spannagel: Trotz Aufschwung: Einkommensungleichheit geht nicht zurück (pdf), WSI-Verteilungsbericht 2015
Rakesh Kochhar, Richard Fry, Molly Rohal: The American Middle Class Is Losing Ground. No longer the majority and falling behind financially (pdf), Pew Research Center, Dezember 2015