Quelle: HBS
Böckler ImpulsWirtschaftspolitik: Durchwachsene Bilanz
Wirtschaftspolitisch lief in den vergangenen drei Jahren einiges rund, manches weniger: Die Stabilisierungspolitik in der Corona- und Inflationskrise war erfolgreich, ansonsten wurden viele Ziele verfehlt.
Die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine haben in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einkommen der Bevölkerung geringere Schäden angerichtet, als angesichts der starken wirtschaftlichen Schocks zu erwarten gewesen wäre – dank Kurzarbeit, Unterstützungszahlungen und Energiepreisbremsen. Dennoch schneidet Deutschland zwischen 2020 und 2022 bei zentralen Kenngrößen wirtschaftlicher, staatlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit relativ schwach ab. Das ergibt ein Nachhaltigkeits-Check, den Fabian Lindner von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und Anita Tiefensee von der Hochschule des Bundes für das IMK durchgeführt haben. Anhand aktueller Daten aus zahlreichen offiziellen Quellen wurde überprüft, wie sich nicht nur materieller Wohlstand und ökonomische Stabilität, sondern auch die Nachhaltigkeit von Staatstätigkeit und Finanzen sowie die soziale und ökologische Nachhaltigkeit entwickelt haben. Als Maßstab dienen Anforderungen, auf die sich die Bundesregierung etwa im Rahmen der Europa-2020-Strategie sowie der Erneuerbare-Energien-Richtlinien der EU selbst verpflichtet hat und die um weitere wichtige Nachhaltigkeitsziele ergänzt wurden. Der Auswertung zufolge wurden die entsprechenden Ziele bei lediglich 2 von 13 Indikatoren im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre uneingeschränkt erreicht.
Dabei müsse allerdings in Rechnung gestellt werden, dass sowohl die Corona-Pandemie als auch die Explosion der Preise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine äußere Ereignisse darstellen, auf die die deutsche Wirtschaftspolitik nur wenig Einfluss hatte, betonen Lindner und Tiefensee. Daher sei es wenig sinnvoll, den Nachhaltigkeits-Check „mechanisch“ vorzunehmen. Alles in allem ergebe sich ein durchwachsenes Bild: „Die Politik hat insgesamt gut auf die Krisen reagiert. Sie hat Einkommen gestützt, was dazu geführt hat, dass sowohl der wirtschaftliche Wohlstand als auch die soziale Nachhaltigkeit nicht noch stärker gesunken sind, als es in der Krise ohnehin der Fall war.“ Weniger Nachhaltigkeit bei den öffentlichen Finanzen „war dafür der Preis“.
Newsletter abonnieren
Alle 14 Tage Böckler Impuls mit Analysen rund um die Themen Arbeit, Wirtschaft und Soziales im Postfach: HIER anmelden!
Materieller Wohlstand und ökonomische Stabilität
Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag der Analyse zufolge 2022 fast auf dem gleichen Niveau wie 2019. Der Zielwert von 1,25 Prozent Wachstum im Jahresdurchschnitt wurde damit deutlich unterschritten. Der Konsum legte etwas stärker zu – was angesichts drastischer Einbrüche in der Coronakrise und der Energiepreisexplosion bereits ein positives Zeichen sei, so die Forschenden. Mit 0,3 Prozent im Mittel der Jahre 2020 bis 2022 wurde das Ziel von durchschnittlich 1,25 Prozent aber ebenfalls klar verfehlt.
Deutlicher sind die Erfolge der Anti-Krisen-Politik am Arbeitsmarkt abzulesen: Die Quote der Erwerbstätigen lag im gesamten Analysezeitraum oberhalb des Zielwertes von 77 Prozent und übertraf 2022 mit 80,7 Prozent sogar den Vorkrisenstand. Lindner und Tiefensee betrachten das als „gewaltigen beschäftigungspolitischen Erfolg“.
Die Überschüsse im Außenhandel überschritten seit 2012 durchgängig das – von der EU-Kommission mit Blick auf außenwirtschaftliche Stabilität recht großzügig gezogene – Limit von sechs Prozent des BIP, sogar in den Corona-Jahren 2020 und 2021. Vergangenes Jahr sank der Überschuss dann drastisch auf 4,3 Prozent. Grund waren die stark verteuerten Energieimporte. Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher bedeutet die auf dem Papier „bessere Balance“ im Außenhandel daher einen Wohlstandsverlust. Und gerechnet auf den Dreijahreszeitraum blieb der Außenhandelsüberschuss im Durchschnitt trotzdem oberhalb von sechs Prozent.
Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen
Wenig überraschend ist, dass es um die Nachhaltigkeit von Staatstätigkeit und -finanzen zwischen 2020 und 2022 schlecht bestellt war: In den drei Krisenjahren ist kein einziges Ziel erreicht worden. Die Stützungsmaßnahmen des Staates haben zu strukturellen Defiziten bei den staatlichen Budgets und 2020 und 2021 auch zu Steigerungen der Schuldenstandsquote geführt. Die stark gestiegenen Preise haben wiederum die öffentlichen Investitionen belastet. Diese hatten sich 2020 noch positiv entwickelt, sind 2022 aber stark eingebrochen.
„Die Verschlechterung der Defizite und der Schuldenstandsquote waren angesichts der großen Krisen notwendig, um Wirtschaft und Gesellschaft zu stützen. Die niedrigen Investitionen führen aber langfristig zu einer Belastung, da weniger öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitgestellt werden können, als notwendig wären. Dazu gehört nicht zuletzt die Umstellung der öffentlichen Infrastruktur auf Klimaneutralität“, warnen Lindner und Tiefensee.
Soziale Nachhaltigkeit
Auch bei der sozialen Nachhaltigkeit kommen die Forschenden zu eher ernüchternden Ergebnissen – auch wenn für die verwendeten Indikatoren bislang lediglich Werte bis 2021 vorliegen, die mit früheren Jahren nur eingeschränkt vergleichbar sind. Der Anteil der Armutsgefährdeten an der Gesamtbevölkerung übertraf in den Jahren 2020 und 2021 deutlich den Zielwert von 12 Prozent. 2021 lag er bei 16 Prozent.
Ähnlich sieht es bei der Ungleichheit der Haushaltseinkommen aus: Das reichste Fünftel der Haushalte verfügte 2020 über das fünffache Einkommen des ärmsten Fünftels. Im Jahr 2021 – dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen – war es das 4,4-fache. Damit wurde der Zielwert von 4 in beiden Jahren verfehlt.
Stark negativ war die Entwicklung im Bereich Bildung: Der Anteil der Personen, die höchstens die Haupt- oder Realschule abschließen und keine weitere Ausbildung machen, lag 2020 mit 10,1 Prozent nahe bei der anvisierten Grenze von 10 Prozent, stieg 2021 aber auf 11,6 Prozent. Zum problematischen Trend könnten die Belastungen während der Pandemie beigetragen haben, schätzen die Forschenden. Hier müsse die Politik verstärkt gegensteuern. Eine inklusivere Bildungspolitik sei für die gesellschaftliche Chancengleichheit ebenso wichtig wie für das Fachkräftepotenzial.
Ökologische Nachhaltigkeit
Anders als in den Jahren zuvor hat Deutschland im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit von 2020 bis 2022 immerhin ein zentrales Ziel erreicht, schreiben Lindner und Tiefensee: Die Treibhausgasemissionen sind zwischen 1990 und 2022 um 40,4 Prozent gesunken. Allerdings lag das vor allem an Sonderfaktoren in der Krise: 2020 ließ die Corona-Rezession die Energienachfrage stark sinken, 2022 dämpften die explodierenden Energiepreise und die Angst vor einem Gasmangel den Verbrauch.
Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Energieerzeugung wächst zwar, aber besonders 2022 wurde der Energiemix insgesamt kohlenstoffreicher, weil der Verbrauch von Erdgas und Kernenergie zugunsten von Kohle und Mineralöl reduziert wurde. Unter dem Strich bleibe trotz unübersehbarer Fortschritte also weiterer großer Handlungsbedarf, heißt es in der Studie.
Fabian Lindner, Anita Tiefensee: Nachhaltigkeit der Wirtschaftspolitik in Zeiten von Corona und Inflation. Lehren aus dem Neuen Magischen Viereck, IMK-Study Nr. 88, Oktober 2023