Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Die Zyklen der Ungleichheit
Wenn die Ungleichheit zunimmt, formieren sich gesellschaftliche Gegenkräfte. Allerdings dauert das seine Zeit, zeigt eine Studie. Möglicherweise stehen wir am Wendepunkt.
In den Nachkriegsjahrzehnten waren die Gewerkschaften in den westlichen Ländern stark und die Einkommensunterschiede moderat. Der Schluss liegt nahe: Wenn sich viele Arbeitnehmer einer Gewerkschaft anschließen, wird die Verteilung ausgeglichener; ein höherer Organisationsgrad bewirkt weniger Ungleichheit. Andererseits erscheint auch eine ganz andere Beziehung zwischen den beiden Größen plausibel: Je mehr die Ungleichheit zunimmt, desto größer wird die Unzufriedenheit der Beschäftigten, die sich nun organisieren. So hat Karl Marx es vorausgesagt. Noch komplizierter wird es, wenn man die jüngere Vergangenheit betrachtet: Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat sich die Schere zwischen Arm und Reich infolge einer veränderten Politik weiter geöffnet und die Gewerkschaften sind schwächer geworden. Wie passt das alles zusammen?
Louis Chauvel von der Universität Luxemburg und Martin Schröder von der Universität Marburg haben sich der Sache empirisch angenommen. Dazu haben die Soziologie-Professoren Daten aus Pikettys World Wealth & Income Database und Statistiken zu Gewerkschaftsmitgliedern genutzt. Ihre Studie bezieht unter anderem die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande und Schweden ein. Je nach Datenlage reicht der Untersuchungszeitraum unterschiedlich weit zurück – bei den meisten Ländern bis zum Ersten Weltkrieg oder noch weiter.
Natürlich, so die Forscher, gibt es sehr viele Faktoren, die auf die Ungleichheit und die Stärke der Gewerkschaften wirken. Dennoch lasse sich ein klares Muster erkennen. Entscheidend ist demnach der Zeitfaktor. Auf die Veränderung der einen Variablen folgt nicht unmittelbar eine Veränderung der anderen. Es scheint vielmehr eine zyklische Bewegung zu geben: Nach Phasen großer Ungleichheit kommen – mit zeitlichem Abstand – Perioden, in denen die Gewerkschaften an Stärke gewinnen. Mit zunehmender Mitgliederzahl gelingt es ihnen, eine gerechtere Verteilung herbeizuführen. Über kurz oder lang scheitern sie jedoch am eigenen Erfolg, denn es gelingt ihnen nicht mehr, weitere Beschäftigte für sich zu gewinnen und ihren Einfluss aufrechtzuerhalten, wenn sie die Einkommensungleichheit reduziert haben. Wegen der schwächer werdenen Gewerkschaften driften die Einkommen dann wieder auseinander. Irgendwann beginnt der Zyklus von neuem.
Chauvel und Schröder betonen, dass sich nicht jedes Land genau nach diesem Schema entwickeln muss, zum Beispiel seien die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in Skandinavien trotz zunehmender Ungleichheit in den vergangen Jahrzehnten nicht gefallen – was vor allem daran liege, dass man dort in der Gewerkschaft sein muss, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. Dennoch liefere ihre Analyse Gründe für die Annahme, dass sich die Bewegung gegen die globale Ungleichheit, die sich nach der jüngsten globalen Finanzkrise zu formieren begann, „noch nicht vollständig materialisiert“ hat. „Es kann zehn Jahre oder länger dauern, bis soziale Bewegungen auf gestiegene Ungleichheit reagieren“. Demnach stünde ein Umschwung bevor.
Louis Chauvel, Martin Schröder: A Prey-Predator Model of Trade Union Density and Inequality in 12 Advanced Capitalisms, Kyklos 1/2017