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HBS Böckler Impuls

Wohlstand: Die Vermessung der Lebensqualität - Suche nach neuen Wohlstandsindikatoren

Ausgabe 03/2012

Weltweit werden neue Indikatoren zur Messung des Wohlergehens einer Gesellschaft erprobt – jenseits des Bruttosozialproduktes. Ein Überblick zum Stand der Debatten.

Bhutan hat einen „Glücksindex“, Amerika arbeitet an einem Indikatoren-System mit dreihundert Kennzahlen, in Deutschland diskutiert eine Enquete-Kommission: In vielen Ländern läuft die Suche nach neuen Verfahren zur Vermessung von Fortschritt und Wohlergehen. In einer Studie analysiert der Sozialwissenschaftler Christian Kroll von der London School of Economics die aktuellen Debatten.

Die Stiglitz-Kommission

Als bekanntester Wohlstands-Indikator gilt seit den 1970er-Jahren das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Doch der misst nur die Wirtschaftskraft eines Landes als Menge von Gütern und Dienstleistungen, die hier produziert werden. Die Suche nach Alternativen habe zuletzt die vom französischen Staatspräsidenten initiierte Stiglitz-Kommission vor zwei Jahren angeschoben, so Kroll. Die hochrangig mit Nobelpreisträgern besetzte Expertenrunde hat in ihrem Bericht auf die Defizite des Indikators hingewiesen. So bleiben wichtige Faktoren für das Wohlergehen einer Gesellschaft unberücksichtigt, wie etwa Nachhaltigkeit oder Verteilungsaspekte. Auch Leistungen außerhalb des Marktes wie Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe oder ehrenamtliches Engagement bleiben beim BIP außen vor. Daher empfiehlt die Kommission, den Fokus zu verschieben: von der Messung ökonomischer Produktion hin zur Messung des Wohlbefindens der Menschen. Die Bedenken der Stiglitz-Kommission fasst Kroll zusammen: „Wenn wir unser Handeln nach rein ökonomischen und zudem unzulänglichen Maßstäben wie dem BIP ausrichten, so die Logik, werden wir im Zweifel womöglich andere Entscheidungen fällen, als wenn wir das Wohlergehen der Menschen zum zentralen Leitfaden unseres Wirkens auswählen.“ Daher empfiehlt die Kommission:

  • das ökonomische Indikatorensystem zu überarbeiten,
  • die Lebensqualität breiter zu messen,
  • die Nachhaltigkeit stärker zu berücksichtigen.

Die Stiglitz-Kommission rät, acht Bereiche der Lebensqualität in den Fokus zu rücken: materieller Lebensstandard, Gesundheit, Bildung, persönliche Aktivitäten einschließlich Arbeit, politische Mitbestimmung und Regierungsführung, soziale Beziehungen, Umwelt, persönliche und wirtschaftliche Unsicherheit.

Vor diesem Hintergrund analysiert Kroll im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung Fallstudien zur aktuellen Indikatorenentwicklung in ausgewählten Ländern. Der Wissenschaftler skizziert, wie sich verschiedenste Ini­tiativen, Statistikämter und Kommissionen an der globalen Suche nach den neuen Wohlstandsindikatoren beteiligen. Als „Erfolgsformel“ habe sich häufig ein nationaler runder Tisch erwiesen, so die FES-Studie. Er bezieht verschiedene gesellschaftliche Akteure mit ein – Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Wirtschaft.

Mitwirkung der Bevölkerung

Die Länder beteiligen ihre Bürgerinnen und Bürger dabei sehr unterschiedlich. So fungiert in Deutschland eine Enquete-Komission des Bundestags als runder Tisch. Die Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt“ nahm im Januar 2011 ihre Arbeit auf und will bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 ihren Bericht vorlegen. Der Kreis aus je 17 Abgeordneten und Sachverständigen beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Indikatorensystems. Er stützt sich unter anderem auf Daten des statistischen Bundesamtes. Das veröffentlicht alle zwei Jahre den Bericht „Nachhaltige Entwicklung in Deutschland“ mit 35 verschiedenen Maßzahlen.

Andere Länder setzen zusätzlich auf eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit am Diskussionsprozess durch direkte Teilnahme. In Großbritannien etwa fragte das Office for National Statistics die Bevölkerung, wie sie „well-being“ messen würde – per Website, Fragebögen, Antwortpostkarten und 175 Veranstaltungen im ganzen Land. Mehr als 34.000 Antworten kamen zurück. Auch Italien und Australien setzen neben Expertenrunden auf solche Konsultationsprozesse. Vorteil dieser direkten Beteiligungsstrategie, so Kroll: Die Bevölkerung werde durch die Teilhabe sensibilisiert für Fragen des zukünftigen Zusammenlebens, in der Folge entstehe eine höhere Legitimität und Relevanz für das neue Indikatorensystem.

Dashboard oder Index?

Bei der Suche nach Schlüsselindikatoren für nationales Wohlergehen stehen viele Statistiken schon lange zur Verfügung. Doch die Frage sei, „welche Maßzahlen aus dieser Menge an Informationen für eine Gesellschaft zum zentralen Leitfaden für politisches Handeln und zum Gradmesser des Wohlergehens erkoren werden sollen sowie wo strategische Lücken in der Dateninfrastruktur noch geschlossen werden müssen“, schreibt Kroll.

Einige Länder setzen auf einen differenzierten Index. Das so genannte „dashboard“ präsentiert sich in Form eines Armaturenbretts mit vielen Kennzahlen. So wird in den USA, die das Streben nach Glück in der Verfassung verankert haben, an einem „Key National Indicator System“ (KNIS) gearbeitet. Bis Mitte 2013 solle es rund 300 Einzelindikatoren umfassen, die auf einer Webseite benutzerfreundlich aufbereitet werden, schreibt Kroll.

Andere Länder bündeln ihre Wohlstandsindikatoren in einer einzigen Kennzahl. Kanada etwa entwickelt einen solchen Gesamtindex zum Wohlergehen, der auch die Veränderung der Lebensqualität über die Zeit abbilden soll. Das Königreich Bhutan führt ein „Gross National Happiness“ („Bruttonationalglück“) in der Verfassung, an dem sich die Politik orientieren soll. Vorteil der Indexlösung: Eine solche griffige Zahl lässt sich leichter kommunizieren und so auf mehr öffentliche Wahrnehmung hoffen. Der Nachteil: Ein Gesamt-Index kann nicht das komplexe Zusammenspiel verschiedener Bereiche der Lebensqualität abbilden: „Wie soll eine um 0,2 Jahre gestiegene Lebenserwartung mit einer um 4 Prozent gestiegenen Arbeitslosenquote verrechnet werden?“ Der Sozialwissenschaftler Kroll schlägt einen Mittelweg vor: Ein kleines „dashboard“ mit den wichtigsten Werten, aus dem zusätzlich ein Index erstellt wird. In diese Richtung geht Australien. Hier befassen sich drei landesweite Initiativen mit der Wohlstandsvermessung. Jetzt soll der differenzierte „dashboard“-Ansatz mit dem einfacher zu kommunizierenden Index verknüpft werden

Qualitätskriterien für die Auswahl der Indikatoren werden intensiv debattiert. Weitgehend einig sind sich die Länder, das subjektive Lebensgefühl ihrer Bürger mehr zu beachten. Objektive Faktoren der Lebensqualität – wie Einkommenshöhe, oder Bildungsabschluss – werden mit subjektiven Indikatoren ergänzt. Befragungen sollen ermitteln, wie zufrieden die Menschen sich fühlen mit ihrem Leben.

Ein weiteres Qualitätskriterium nennt etwa die OECD: Die Indikatoren sollten sich auf Ergebnisse konzentrieren. Das heißt: „Nicht nur messen, wie viel Geld zum Beispiel in das Gesundheitssystem eines Landes fließt, sondern besser, wie erfolgreich Krankheiten im Ergebnis bekämpft werden oder wie zufrieden die Patienten sind.“

Chance zum Paradigmenwechsel

Der aktuellen globalen Debatte über die Neuvermessung der Lebensqualität billigt Kroll eine andere Qualität zu als früheren Anstrengungen. Sie verfüge über bessere Daten, mehr Aktive und ein breites Netzwerk. Damit berge sie durchaus das Potenzial, um einen wesentlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Über ihren Erfolg entscheiden dürfte auch eine durchdachte Kommunikationsstrategie: Damit Bürger und Politiker dauerhaft über die Entwicklung der Lebensqualität informiert sind, sollten die Messergebnisse veröffentlicht und in den politischen Prozess integriert werden: Kroll schlägt vor, sie zum festen Bestandteil der Sozialberichterstattung zu machen und empfiehlt regelmäßige Stellungnahmen der Regierenden.

  • Was ist well-beeing? Einen Vorschlag zur Definition hat die OECD in einem Arbeitspapier vorgelegt. Im Mittelpunkt steht das menschliche Wohlergehen umgeben von der Gesellschaft und in Wechselwirkung mit dem Ökosystem. Zur Grafik
  • 2. Dashboard mit einem Indikatorensystem für Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit.Ein deutsch-französischer Vorschlag, angelehnt an den Stiglitz-Bericht. Zur Grafik

Christian Kroll: Wie wollen wir zukünftig leben? Internationale Erfahrungen bei der Neuvermessung von Fortschritt und Wohlergehen, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2011

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