Quelle: HBS
Böckler ImpulsMythen der Sozialpolitik: Die Mär von der Hängematte
In einer aktuellen Blog-Serie des WSI zu „Mythen der Sozialpolitik“ setzen sich Forschende mit Klischees in der sozialpolitischen Debatte auseinander. Ein solches Klischee ist die Behauptung, dass Sozialleistungen massenhaft missbraucht würden.
Seit Einführung des Bürgergelds werde wieder viel diskutiert über „Missbrauch“ und die vermeintliche Möglichkeit, sich in der „sozialen Hängematte“ auszuruhen, erklärt die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt von der TU Dortmund. Anekdotische Berichte über Einzelfälle sorgten regelmäßig für Empörung. Ein anderes Bild ergebe sich hingegen, wenn man die statistischen Fakten betrachtet: Die Missbrauchsquote liegt im niedrigen einstelligen Bereich, um ein Vielfaches höher ist der Anteil der Menschen, die Ansprüche auf Sozialleistungen haben, diese aber nicht geltend machen.
Die Forscherin verweist auf eine Anfrage, die das ZDF für das Jahr 2022 an die Bundesagentur für Arbeit und den Zoll gestellt hat, der dafür zuständig ist, die Rechtmäßigkeit von Leistungsbezügen zu kontrollieren. Demnach waren im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende rund 119 000 Fälle von Leistungsmissbrauch oder Verdacht auf Leistungsmissbrauch dokumentiert. Der Zoll gab für dasselbe Jahr etwa 85 700 eingeleitete und knapp 86 700 erledigte Ermittlungsverfahren an, wobei hier auch das Arbeitslosengeld einbezogen wurde. Die Missbrauchsquote entspricht – gemessen an fünf Millionen Leistungsberechtigten – etwa vier Prozent.
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Laut Eckhardt fällt bei der Fokussierung auf den Missbrauch von Sozialleistungen häufig unter den Tisch, dass viele Menschen solche Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie dazu berechtigt wären. Da es schwer ist, die Größe dieser Gruppe präzise zu ermitteln, schwanken die entsprechenden Zahlen erheblich, liegen aber immer deutlich über der Missbrauchsquote. Für die Grundsicherung im Alter wird der Anteil derjenigen, die ihre Ansprüche nicht geltend machen, auf etwa 60 Prozent der leistungsberechtigten Haushalte geschätzt, beim Arbeitslosengeld II – heute das Bürgergeld – auf über ein Drittel. Noch höher sind die Werte unter anderem beim Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder, das 85 Prozent nicht in Anspruch nehmen.
Als Gründe macht die Expertin zum einen „initiale Hürden“ aus: Oft finde eine Beantragung nicht statt, weil zum Beispiel die erwarteten persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen oder Missverständnisse, Unsicherheiten und Ängste vorherrschen. Manche Anspruchsberechtigte scheiterten am Formularwesen. Andere wiederum entschieden sich bewusst für Verzicht – weil sie ein Verständnis von Sozialleistungen verinnerlicht haben, das die Inanspruchnahme als „illegitim oder sogar verwerflich“ erscheinen lässt. Wie Sozialleistungen gesellschaftlich wahrgenommen und verhandelt werden, bestimme mit darüber, wie zugänglich der Sozialstaat in der Praxis ist, so die Forscherin.
Jennifer Eckhardt: Von wegen Hängematte: Zur Unzugänglichkeit von Sozialleistungen, WSI-Blogserie „Mythen der Sozialpolitik“,August 2024