Quelle: HBS
Böckler ImpulsMindestlohn: Die Linie nach unten
An welchem Maßstab kann sich ein deutscher Mindestlohn orientieren? Worauf beruhen beispielsweise die 7,50 Euro pro Stunde, die jetzt der DGB als gesetzliche Lohnuntergrenze vorschlägt? Eine Analyse des WSI.
Sicher ist: Millionen Menschen würden von einer verbindlichen Lohnuntergrenze, wie sie etwa der DGB mit 7,50 Euro pro Stunde vorschlägt, profitieren. Denn Niedriglöhne sind verbreitet in Deutschland, auch nach Tarifvertrag: Ein Angestellter in der Bekleidungsindustrie Niedersachsen/Bremen verdient heute beispielsweise 5,93 Euro die Stunde, eine Floristin in Sachsen-Anhalt im dritten Berufsjahr nicht mehr als 5,38 Euro. Als Orientierung für einen gesetzlichen Mindestlohn bieten sich auf den ersten Blick, so das WSI, mehrere Größen an: sozialstaatliche Standards wie die Pfändungsfreigrenze oder das Existenzminimum, eine der Armutsgrenzen oder das Beispiel der europäischen Nachbarn.
Die Pfändungsfreigrenze für Erwerbstätige beschreibt ein gesetzliches Minimum für das Einkommen von Erwerbstätigen. Diese Norm wird in der Praxis zwar nur auf überschuldete Personen angewendet, deren Einkommen gepfändet wird. Ein Gerichtsvollzieher muss einem allein stehenden Erwerbstätigen im Monat derzeit einen Betrag von 985 Euro netto lassen, damit der seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese Definition eines unteren Limits ist im Grundsatz aber für alle Erwerbstätigen gültig, analysieren die Forscher. Bis Mitte des vergangenen Jahres lag die Pfändungsfreigrenze bei 930 Euro netto im Monat. Das WSI stellte auf dieser Basis - auf den Bruttolohn je Stunde gerechnet - 7,50 Euro als Mindestlohn zur Diskussion. 2005 wurde die Pfändungsfreigrenze auf 985 Euro netto erhöht.
Die Grundsicherung: Ein ALG-II-Empfänger ohne Job hat im Durchschnitt Anspruch auf 676 Euro. Würde er arbeiten, müssten Zusatzausgaben wie Fahrtkosten und Arbeitskleidung berechnet werden. Das WSI kalkuliert so ein "sozialhilfeähnliches Entgelt" von 776 Euro. Damit wäre die Arbeitsleistung noch nicht bezahlt, argumentiert das WSI. Deshalb tauge diese Grundsicherung für Erwerbslose nicht als Lohn-Untergrenze für einen Erwerbstätigen. Der Abstand zwischen Lohn für Erwerbstätigkeit und staatlicher Unterstützung für Erwerbslosigkeit müsse angemessen sein.
Die Europäische Sozialcharta verankert eine verbindliche Mindestlohnnorm für Deutschland, gegen die jedoch regelmäßig - und bisher folgenlos - verstoßen wird. Die Charta wurde nach 1961 von den Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet und 1964 auch von der Bundesrepublik ratifiziert. Sie definiert soziale Grundrechte wie eine kostenfreie Schulbildung, Arbeits- und Mutterschutz und enthält auch eine Mindestlohnklausel. Die Vertragsstaaten sollen sich an eine Untergrenze von 60 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns halten. In Deutschland (Ost und West zusammen) liegt diese Schwelle bei brutto umgerechnet bei 1.420 Euro im Monat, 8,45 Euro die Stunde.
Die Grenze zur Lohnarmut bietet einen zusätzlichen Orientierungspunkt. Eurostat, das Statistische Amt der Europäischen Union, zieht die Lohnarmutsgrenze bei 50 Prozent des durchschnittlichen Vollzeiteinkommens eines Landes. Wer weniger verdient, gilt in der EU als arm trotz Arbeit. Getrennt für das unterschiedliche Lohnniveau von West- und Ostdeutschland berechnet, kommt das WSI auf 12,1 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im Westen und 9,5 Prozent im Osten, die so genannte Armutslöhne beziehen - insgesamt etwa 3,4 Millionen Beschäftigte. Um die so definierte Lohnarmut vollständig einzudämmen, müsste der Mindestlohn bei rund 9 Euro rangieren, errechnet das WSI.
Die gesetzlichen Mindestlöhne in anderen EU-Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftskraft wie Frankreich, Niederlande, Luxemburg, Belgien und Irland sind derzeit zwischen 7,48 und 8 Euro die Stunde angesiedelt. Der britische Mindestlohn klettert im Oktober 2006 über die 8-Euro-Marke.
Ein Mindestlohn wirkt nur ab einer ausreichenden Höhe, argumentieren die WSI-Experten: "Wird er zu niedrig festgelegt, bekommt er nur kosmetischen Charakter oder noch schlimmer: legitimiert unter Umständen bisher als unzureichend angesehene Niedriglöhne."
Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Claus Schäfer (Hrsg.): Mindestlöhne in Europa, VSA-Verlag, Hamburg 2006
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