Quelle: HBS
Böckler ImpulsDigitalisierung: Die App hat alle im Griff
Essenslieferanten wie Foodora oder Deliveroo versprechen ihren Fahrern flexibles und selbstbestimmtes Arbeiten. Tatsächlich herrscht ein ausgefeiltes digitales Kontrollregime.
In Großstädten sind sie ein vertrauter Anblick: Radfahrer in Pink oder Türkis, die Boxen mit Pizza, Sushi oder Schnitzel durch die Gegend kutschieren. Auf welchen Arbeitsbedingungen dieses Geschäftsmodell basiert, haben die Soziologinnen Mirela Ivanova und Joanna Bronowicka von der Europa-Universität Viadrina gemeinsam mit den Rechtswissenschaftlerinnen Eva Kocher und Anne Degner im Rahmen eines von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekts untersucht. Den Ergebnissen zufolge stehen der scheinbaren Autonomie der Fahrer effektive Kontrolltechniken gegenüber.
Für ihre Untersuchung haben die Forscherinnen Berliner Deliveroo- und Foodora-Fahrer, deren Vorgesetzte und Gewerkschaftsvertreter interviewt sowie Arbeitsabläufe, Versammlungen und Demonstrationen beobachtet. Zusätzlich wurden Dokumente wie E-Mails, Newsletter oder Stellenbeschreibungen ausgewertet.
Der Arbeitsprozess funktioniert der Studie zufolge bei beiden Lieferdiensten sehr ähnlich: Wenn eine Bestellung eingeht, müssen die Fahrer das gewünschte Essen vom Restaurant abholen und zum Kunden transportieren. Dabei werden sie durch eine App über Aufträge informiert und bei der Abwicklung unterstützt. Der Ablauf ist in Einzelschritte zerlegt: die Auftragsannahme, die Fahrt zum Restaurant, die Entgegennahme, die Fahrt zum Kunden, die Übergabe. Die Erledigung jedes einzelnen Arbeitsschritts muss per Klick bestätigt werden. Die Fahrer nutzen ihre eigenen Räder und Smartphones, Dienstkleidung und Transportbox stellen die Unternehmen zur Verfügung.
Einen deutlichen Unterschied gibt es beim rechtlichen Status der Fahrer: Bei Foodora handelt es sich um abhängig Beschäftigte mit neun Euro Stundenlohn, bei Deliveroo um Selbstständige, die fünf Euro pro Lieferung erhalten. Die Deliveroo-Fahrer können Aufträge jederzeit ablehnen oder abbrechen, die Kollegen von Foodora haben diese Freiheit nicht.
Trotz der unterschiedlichen Beschäftigungsmodelle sei die Rhetorik der beiden Anbieter auffällig ähnlich, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Sowohl Deliveroo als auch Foodora beschreiben ihre Fahrer als Mikrounternehmer, die die Natur ihrer Arbeit selbst bestimmen, stellen also Jobs mit weitgehender Autonomie in Aussicht.
In Pink oder Türkis Essen auszuliefern, ist der Untersuchung zufolge tatsächlich mit gewissen Freiheiten verbunden: Grundsätzlich können die Fahrer ihre Schichten ebenso frei wählen wie das Gebiet, in dem sie arbeiten. Auch hinsichtlich der Route und der Geschwindigkeit gibt es keine festen Vorgaben. Aus Sicht des Managements bestehe die Herausforderung darin, trotz dieser Freiheiten Planbarkeit sicherzustellen, so die Autorinnen. Dabei spiele Steuerung durch Algorithmen eine zentrale Rolle: „Angeblich erlaubt die App den Fahrern, ihr eigener Chef zu sein. Tatsächlich ist die App der Chef.“
Die Kontrolle per App funktioniere zum einen über automatische Benachrichtigungen, heißt es in der Studie. Die Aktivitäten der Fahrer werden demnach mittels GPS-Ortung und Auswertung ihrer Klicks in Echtzeit überwacht. Sobald das Programm eine Unregelmäßigkeit wie fehlende Bewegung oder überlange Wartezeiten feststellt, poppt beim Fahrer eine entsprechende Nachricht auf. Ein Vorgesetzter aus Fleisch und Blut greift nur dann ein, wenn die automatisierte Kommunikation ihren Zweck nicht erreicht. Dass es selten dazu kommt, scheint nicht unwesentlich zur gefühlten Autonomie beizutragen: Viele der Befragten finden Anweisungen von einem Algorithmus offenbar weniger störend als Anweisungen von einem menschlichen Chef.
Auch das Vergütungssystem habe eine disziplinierende Wirkung, stellen die Forscherinnen fest. Die Zahlung pro Lieferung bei Deliveroo sorge automatisch dafür, dass die Fahrer sich um eine effiziente Abwicklung bemühen und Schichten mit dem größten Betrieb buchen. Bei Foodora gebe es ein Bonussystem, das diese Aufgabe übernimmt.
Die Daten, die bei der digitalen Überwachung der Fahrer anfallen, werden laut der Untersuchung dafür genutzt, internen Wettbewerb zu erzeugen. Dabei dient die Schichtplanung als zentrales Druckmittel: Grundsätzlich können die Fahrer Woche für Woche ihre Schichten selbst auswählen. Diejenigen, deren Leistungen ein Algorithmus am höchsten einstuft, sind allerdings zuerst dran, wer zu den am wenigsten Leistungsstarken gehört, erst ganz am Schluss. Das heißt: Wer bei der Leistungsbewertung schlecht abschneidet, der hat kaum noch Auswahl.
Zu den Instrumenten der Verhaltenssteuerung zählen die Wissenschaftlerinnen darüber hinaus die strategische Zurückhaltung von Informationen. Wo ein Kunde wohnt, enthüllt die App beispielsweise erst, wenn der Fahrer das bestellte Essen im Restaurant entgegengenommen hat. Ebenso intransparent sei die genaue Funktionsweise der Leistungsbewertung.
Ob die Deliveroo-Fahrer rechtlich tatsächlich als Selbstständige gelten können, erscheine vor diesem Hintergrund fraglich, so die Forscherinnen. Schließlich seien sie wegen der unvollständigen Informationen kaum in der Lage, rationale unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Die Autorinnen verweisen in diesem Zusammenhang auf Überlegungen, den Arbeitnehmerbegriff neu zu fassen. Neben der Weisungsgebundenheit müsse dabei die Integration in die betriebliche Organisation als Kriterium berücksichtigt werden.
Arbeit neu begreifen
Obwohl die Soloselbstständigen ebenso abhängig von ihren Auftraggebern sind wie Arbeitnehmer, gelten für sie nicht die gleichen Rechte, was soziale Absicherung, Arbeitsschutz oder kollektive Interessenvertretung angeht. Diese Lücke im Arbeitsrecht ist auch insofern problematisch, als prekäre Selbstständigkeit in Zeiten der digitalen Plattformökonomie zunehmen dürfte. Um die Situation der Betroffenen zu verbessern, hat sich die von der Hans-Böckler-Stiftung initiierte Expertenkommission zur Arbeit der Zukunft für eine Neufassung des Arbeitnehmerbegriffs ausgesprochen und einen Arbeitskreis eingesetzt, der sich mit diesem Thema befasst. Den Überlegungen zufolge ist es nötig, den Arbeitnehmerstatus zu „entpersönlichen“ und auf diejenigen auszuweiten, die zwar nicht persönlich, aber sachlich oder wirtschaftlich abhängig sind. Da auch ein erweiterter Arbeitnehmerbegriff nicht alle in der Grauzone zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit Arbeitenden erfassen kann, seien darüber hinaus neue Konturierungen nötig. Ausgangspunkt könnte dabei die bereits existierende Kategorie der „arbeitnehmerähnlichen Person“ sein. Die Expertenkommission empfiehlt, die Rechte der Grenzgänger zwischen Selbstständigkeit und Arbeitnehmerstatus weiter auszubauen und auf neue Gruppen wie Crowdworker auszudehnen.
Kerstin Jürgens u.a.: Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“ (pdf), Bielefeld 2017
Mirela Ivanova, Joanna Bronowicka, Eva Kocher, Anne Degner: Foodora and Deliveroo: The App as a Boss? (pdf) Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 107, Dezember 2018