Quelle: HBS
Böckler ImpulsMindestlohn: Deutschland startet moderat
Die Mehrheit der EU-Länder hat in den vergangenen Monaten ihren Mindestlohn angehoben – aber das Wachstum war zumeist wieder nur schwach. Deutschland steigt im Vergleich zu seinen Nachbarn mit einem moderaten Mindestlohnniveau ein.
21 von 28 EU-Staaten verfügen über einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Im kommenden Jahr soll Deutschland hinzukommen. WSI-Tarifexperte Thorsten Schulten untersucht im neuen WSI-Mindestlohnbericht und einer weiteren Analyse, wie sich die Lohnuntergrenzen aktuell entwickeln – und welche Schlussfolgerungen sich für Deutschland ergeben. Zwei wichtige Befunde: Für die Behauptung von Mindestlohngegnern, Lohnminima würden von der Politik, etwa in Wahlkämpfen, hochgetrieben, finden sich keine Belege. Und: Mit einem Stundensatz von 8,50 Euro steigt Deutschland im westeuropäischen Vergleich keineswegs besonders hoch in den Mindestlohn ein.
15 Länder haben erhöht. Zwölf EU-Länder haben ihre gesetzlichen Mindestlöhne zum 1. Januar 2014 angehoben, zeigt Schultens Auswertung. Großbritannien, Tschechien und Luxemburg waren schon im vergangenen Herbst vorangegangen. Gleichwohl bremsten die Krise im Euroraum und der Sparkurs, den viele Regierungen nach wie vor verfolgen, die Anpassung der Lohnuntergrenzen in Europa erneut stark ab, konstatiert der WSI-Experte.
Lediglich in einigen osteuropäischen Ländern, darunter Polen, Bulgarien und Rumänien, stiegen die Mindestlöhne auch nach Abzug der – insgesamt geringen – Inflation deutlich. In den meisten west- und südeuropäischen Staaten glichen die Erhöhungen die Teuerungsrate dagegen bestenfalls aus. In den Niederlanden oder Großbritannien verlor der Mindestlohn real sogar an Wert. Reale Verluste waren auch in den EU-Ländern zu verzeichnen, die ihren Mindestlohn eingefroren haben. Dazu zählen Belgien, Spanien oder Irland.
Zwischen 8,65 Euro und 11,10 Euro bei den westlichen Nachbarn. In den westeuropäischen Euro-Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Bruttostundenlöhne nun zwischen 8,65 Euro in Irland und 11,10 Euro in Luxemburg. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 7,43 Euro gezahlt werden. Dieser Wert ist aber davon beeinflusst, dass das Britische Pfund seit 2007 gegenüber dem Euro deutlich abgewertet hat. Sonst würde der britische Mindeststundenlohn heute bei 9,22 Euro liegen, erklärt Schulten. Deutschland würde sich somit „mit dem jetzt anvisierten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde am unteren Rand der westeuropäischen Spitzengruppe bewegen“, schreibt der Forscher.
Die südeuropäischen EU-Staaten haben Lohnuntergrenzen zwischen 2,92 Euro in Portugal und 4,15 Euro auf Malta. Etwas darüber liegt Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch deutlich niedriger. Allerdings haben mehrere davon im vergangenen Jahr aufgeholt. So müssen in Polen jetzt mindestens 2,31 Euro pro Stunde bezahlt werden.
Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil auch unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftparitäten zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten gesetzlichen Mindestlohn in der EU von 1:11 auf etwa 1:6. Interessant ist, dass der geplante deutsche Einstiegs-Mindestlohn kaufkraftbereinigt noch unter dem britischen liegen wird. Auch gemessen am mittleren Lohn im Land ist das Niveau des deutschen Lohnminimums keineswegs besonders hoch, zeigt Schulten: 2012 hätten die 8,50 Euro 51 Prozent des Medianlohns entsprochen; ein Wert, der bis zur Einführung 2015 noch spürbar sinken wird. Damit liegt der deutsche Mindestlohn international in einem breiten Mittelfeld. In Portugal oder Frankreich ist das Niveau mit 58 und 62 Prozent weitaus höher. „Behauptungen, ein deutscher Mindestlohn sei im europäischen Vergleich hoch, treffen in keiner Hinsicht zu“, betont Schulten.
Eine weitere Annahme, die deutsche Mindestlohngegner immer wieder äußern, lässt sich auf der Basis des europäischen Vergleichs ebenso wenig belegen: Entscheidend für die Mindestlohnentwicklung sind nicht politische Zyklen, sondern die konjunkturelle Entwicklung, ergibt die WSI-Analyse. Es gebe kaum Indizien dafür, dass Erhöhungen als „Wahlkampfgeschenke“ beschlossen würden. Dagegen spricht auch der recht verhaltene längerfristige Trend zwischen 2001 und 2012: Preisbereinigt stiegen die Lohnuntergrenzen in West- und Südeuropa zumeist um weniger als 1 Prozent im Jahresdurchschnitt. Lediglich in Irland, Frankreich und Großbritannien reichte die reale Wachstumsrate von 1,3 bis 2,1 Prozent. In Osteuropa legten die Lohnminima real meist deutlich stärker zu, allerdings auf niedrigerem Niveau.
Inflationsausgleich gegen schleichende Entwertung. Wenn es überhaupt eine „Politisierung“ von Mindestlöhnen gebe, dann eher in die andere Richtung, konstatiert Schulten: Konservative Regierungen versuchten sich dadurch zu profilieren, dass sie den Mindestlohn für längere Zeit nicht anpassen – selbst um den Preis, dadurch Binnennachfrage und Konjunktur zu schwächen. Allerdings werde die schwache Entwicklung vieler Mindestlöhne zunehmend kritisch diskutiert, berichtet der Forscher, insbesondere in den USA und Großbritannien. Mehr als 600 amerikanische Ökonomen, darunter zahlreiche Nobelpreisträger, haben kürzlich in einem offenen Brief für eine kräftige Anhebung des US-Mindestlohnes plädiert. Und nicht nur London, auch zahlreiche andere britische Städte und Regionen geben für ihre eigene Auftragsvergabe lokale Mindestlöhne vor, die deutlich über dem nationalen Niveau liegen.
Zumindest begrenzen lässt sich die schleichende Entwertung von Mindestlöhnen nach Schultens Untersuchung mit Regeln für Mindesterhöhungen, wie sie einige EU-Länder haben. So wird beispielsweise in Frankreich, den Niederlanden oder Luxemburg die Lohnuntergrenze einmal im Jahr mindestens an die Entwicklung der Verbraucherpreise oder der übrigen Löhne angepasst. Darüber hinaus sind weitere Erhöhungen möglich. Eine ähnliche Regelung hält der Wissenschaftler auch in Deutschland für sinnvoll.
Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2014 – stagnierende Mindestlöhne, in: WSI-Mitteilungen 2/2014 (im Erscheinen);
ders.: Mindestlohnregime in Europa… und was Deutschland von ihnen lernen kann (pdf), Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Februar 2014.