Quelle: HBS
Böckler ImpulsArmut: Deutschland: Ohne Job arm dran
Seit den Hartz-Reformen hat die Armut bei Menschen mit und ohne Job stark zugenommen. Auch wenn die Armutsquote unter Arbeitslosen in jüngster Zeit leicht rückläufig war.
Die Zahl der Erwerbstätigen dürfte in diesem Jahr einen neuen Rekordstand erreichen. Doch die guten Nachrichten vom Arbeitsmarkt haben eine Schattenseite, sagt WSI-Forscher Eric Seils: „Der Anteil der Armen in der Erwerbsbevölkerung ist heute deutlich höher als 2004. Das gilt sowohl für Beschäftigte als auch für Arbeitslose.“
Bei der Arbeitsarmut im europäischen Mittelfeld. Der Sozialwissenschaftler hat die neuesten verfügbaren Zahlen aus der EU-weiten Erhebung von Armutsdaten ausgewertet. 2010 waren laut EU-Statistikbehörde Eurostat in Deutschland 7,7 Prozent der Erwerbstätigen von Arbeitsarmut bedroht. Das heißt, ihnen standen weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung – das ist die gängige wissenschaftliche Schwelle der „Armutsgefährdung“. In Deutschland liegt sie für einen Alleinstehenden bei 952 Euro im Monat. Im Vergleich zu 2004 ist die Quote der „Working Poor“ um 2,9 Prozentpunkte oder fast 38 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt der EU blieb sie laut Eurostat hingegen seit 2004 stabil, im Mittel des Euroraums nahm sie um 1,4 Prozentpunkte zu. Der überdurchschnittliche Anstieg führte dazu, dass Deutschland bei der Arbeitsarmut mittlerweile im europäischen Mittelfeld liegt.
Nicht nur atypisch Beschäftigte betroffen. Parallel zur Ausbreitung der Arbeitsarmut nahm auch die atypische Beschäftigung kräftig zu, so Seils. Verschiedene Studien belegen, dass befristete Jobs, Leiharbeit, Teilzeitstellen oder Minijobs im Durchschnitt schlechter bezahlt werden als so genannte Normalarbeitsverhältnisse. Allerdings reiche der Boom bei den atypischen Beschäftigungsformen nicht aus, um zu erklären, warum die Zahl der „Working Poor“ so markant gewachsen ist, betont der WSI-Experte: Die Daten zeigten, dass der Trend zu wachsender Arbeitsarmut „gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfasst hat“.
Knapp 68 Prozent der Arbeitslosen unter der Armutsgrenze. Die Quote der von Armut bedrohten Arbeitslosen sank von 2009 auf 2010 zwar um gut zwei Prozentpunkte. Damit blieb sie aber auf dem mit Abstand höchsten Niveau in der EU, wo der Durchschnitt bei rund 46 Prozent liegt. Zudem ist der Anteil der armutsgefährdeten Arbeitslosen in der Bundesrepublik immer noch um 26 Prozentpunkte höher als 2004. Dies habe mit der vierten Hartz-Reform zu tun, erklärt WSI-Forscher Seils. Langzeitarbeitslose seien seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe schlecht gegen Armut abgesichert. Nach einem Jahr – einer im Vergleich zu etlichen europäischen Nachbarländern relativ kurzen Frist – erhalten Arbeitslose kein einkommensabhängiges Arbeitslosengeld I(ALG I) mehr, sondern nur noch das niedrigere ALG II als Grundsicherung. Und das reiche oft nicht mehr, um das Haushaltseinkommen über der Armutsgrenze zu halten. Die Langzeitarbeitslosen fallen statistisch besonders ins Gewicht, weil sie vom Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre am wenigsten profitiert haben, so Seils.
Außerdem sieht der Sozialwissenschaftler einen deutlichen Zusammenhang zwischen gewachsener Arbeits- und Arbeitslosenarmut: „Wer bereits in Beschäftigung arm war, wird es als Arbeitsloser erst recht sein.“ Sei es, weil das Einkommen so niedrig war, dass schon das ALG I unter der Grundsicherungsgrenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf nicht lange genug am Stück beschäftigt war, um überhaupt einen Anspruch auf die Versicherungsleistung zu haben.
Mehr arme Arbeitslose in Südeuropa. Erstmals schlägt sich in den Eurostat-Daten für 2010 die Krise in Südeuropa nieder. So wuchs in Griechenland der Anteil der armen Arbeitslosen binnen Jahresfrist um knapp 15 Prozent, auch in Italien und Spanien zeigt sich ein – deutlich geringerer – Anstieg. Das werde sich künftig fortsetzen, schätzt Seils.
Allerdings dürfte die Erhebung die Zuspitzung der sozialen Situation eher unterzeichnen, glaubt der WSI-Forscher: Einerseits blieben junge Erwachsene ohne Job oder mit geringem Einkommen in diesen Ländern oft bei ihren Eltern wohnen – sie tauchten dann nicht als eigene Haushalte in der Statistik auf. Andererseits könnten bei großflächigen Lohnkürzungen in den Krisenstaaten die Einkommen allgemein sinken. Das dämpfe den Anstieg der 60-Prozent-Armutsquote, weil sie sich vom Einkommensmittel ableitet.
Eric Seils forscht im WSI zu Verteilung und sozialer Sicherung im internationalen Vergleich.