Quelle: HBS
Böckler ImpulsEntgeltgleichheit: Deutschland muss nachbessern
Das Entgelttransparenzgesetz soll für gleiche Bezahlung von Frauen und Männern sorgen. Doch es muss nachgeschärft werden – eine neue EU-Richtlinie gibt den Rahmen vor.
Anstöße zu mehr Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern kamen schon häufig von europäischen Institutionen. Bereits die Römischen Verträge von 1957 legten fest, dass für gleichwertige Arbeit gleiches Entgelt zu zahlen ist, unabhängig vom Geschlecht. Zwar ging es damals weniger um Gleichstellung als vielmehr darum, Lohndumping durch schlecht bezahlte Frauenarbeit zu verhindern. Doch die EU lieferte in den folgenden Jahrzehnten immer wieder wichtige Impulse für eine geschlechtergerechte Entlohnung: mit der Europäischen Grundrechtecharta, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Gender-Richtlinien, Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und anderen Dokumenten. Das schreiben Andrea Jochmann-Döll, Elisa Rabe und Johannes Specht in einer Analyse für das WSI. Die Fachleute für Gleichstellungsfragen beziehungsweise Tarifpolitik haben die neue, im März 2023 verabschiedete Entgelttransparenz-Richtlinie der EU unter die Lupe genommen – und herausgearbeitet, welcher Änderungsbedarf am deutschen Entgelttransparenzgesetz sich daraus ergibt.
Es zeigt sich: Der Anwendungsbereich muss in alle Richtungen erweitert werden, Unternehmen müssen präzisere Angaben über ihre Lohnstruktur machen und Benachteiligungen höhere Entschädigungen nach sich ziehen.
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Beispielsweise besteht die Verpflichtung, Auskunft über die Verdienste zu geben, nach aktuellem deutschen Recht nur für Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten. Die EU-Richtlinie sieht hingegen keine Größenbeschränkung vor. In Zukunft wird es auch nicht ausreichen, wenn nur bereits beschäftigte Frauen das Recht haben, über die Verdienste von Männern in gleicher Position informiert zu werden. Nach der EU-Richtlinie haben schon Bewerberinnen und Bewerber einen Auskunftsanspruch hinsichtlich der Höhe des Einstiegseinkommens.
Um auf Gleichbehandlung pochen zu können, ist es nach aktuellem deutschen Recht erforderlich, sich auf eine Vergleichsgruppe von mindestens sechs Personen des anderen Geschlechts zu beziehen, die sehr ähnliche Tätigkeiten ausüben. Das ist nach dem neuen EU-Recht nicht mehr nötig, zum Vergleich können beispielsweise selbst Personen herangezogen werden, die gar nicht mehr im Betrieb arbeiten. Weiterhin sind nach der EU-Entgelttransparenz-Richtlinie beim Vergleich von Beschäftigtengruppen durchschnittliche Entgelte maßgeblich, nicht wie nach deutschem Recht Medianentgelte, die Ausreißer nach oben oder unten nicht widerspiegeln. Betriebliche Prüfverfahren oder Berichtspflichten über geschlechterbezogene Entgeltdifferenzen sind künftig – mit Übergangsfristen – für Unternehmen ab 100 Beschäftigten vorgesehen.
Auch im Hinblick auf die Beweislast muss das Entgelttransparenzgesetz geändert werden. Es gilt klarzustellen: Nicht die Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer müssen beweisen, dass sie benachteiligt werden, sondern das Management muss den Beweis erbringen, dass die Entgeltstruktur frei von Diskriminierung ist. Betroffenen steht ein Recht auf vollständigen Schadensersatz zu.
Doch nicht nur der Gesetzgeber ist gefordert, so Jochmann-Döll, Rabe und Specht. Auch für die betriebliche Praxis und die Gewerkschaften hat die EU-Richtlinie große Bedeutung. So haben Beschäftigte das Recht, bei unzutreffender oder unvollständiger Information „zusätzliche und angemessene Klarstellungen und Einzelheiten“ zu verlangen, so die Fachleute. Hier dürfte es gerade in der Anfangszeit zu betrieblichen und juristischen Auseinandersetzungen kommen, bei denen die Gewerkschaften ihre Mitglieder unterstützen sollten.
Betriebsräte werden sich außerdem mit vom Management engagierten externen Dienstleistern auseinandersetzen müssen, die den Auftrag haben, Berichte zu verfassen, welche die Entgeltstruktur im Unternehmen in gutem Licht erscheinen lassen. Wird bei Überprüfungen eine „Entgeltlücke“ von fünf Prozent oder mehr festgestellt, sieht die Richtlinie eine gemeinsame Bewertung durch Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten- wie der Arbeitgeberseite vor. Es gelte, Betriebsräte frühzeitig auf diese Aufgabe vorzubereiten. Auch Tarifverträge sind auf diskriminierende Regelungen zu überprüfen, andernfalls könnten sie teilweise ungültig werden.
Die Entgelttransparenz-Richtlinie muss innerhalb von drei Jahren in deutsches Recht umgesetzt werden.
Andrea Jochmann-Döll, Elisa Rabe, Johannes Specht: Neuer Wind aus Brüssel für die Entgeltgleichheit, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 97, September 2023