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Deutschland mit Nachholbedarf Böckler Impuls

EU-Mindestlöhne: Deutschland mit Nachholbedarf

Ausgabe 04/2025

In den meisten EU-Ländern steigen die Mindestlöhne deutlich. Deutschland hinkt mit einer Mini-Erhöhung hinterher.

Fast überall in der EU sind die Mindestlöhne zu Jahresbeginn gestiegen. Im Mittel beträgt der nominale Anstieg gegenüber dem Vorjahr 6,2 Prozent. Da gleichzeitig auch die Inflation europaweit zurückgegangen ist, bleibt – anders als in den Vorjahren – mit 3,8 Prozent ein deutliches reales Plus. Allerdings ist die Entwicklung sehr uneinheitlich: So liegen die neun Länder mit den größten realen Zuwächsen allesamt in Osteuropa. In der übrigen EU schneiden Irland, Portugal, Griechenland und die Niederlande vergleichsweise gut ab. In Deutschland entspricht die Anhebung des Mindestlohns auf 12,82 Euro zu Jahresbeginn einem Anstieg geringfügig über der Inflationsrate, gemessen am harmonisierten Verbraucherpreisindex. Für die Menschen, die hierzulande zum Mindestlohn arbeiten, bleibt nach der Mini-Erhöhung – in der Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaftsseite beschlossen – nur ein reales Plus von 0,8 Prozent. Das geht aus dem WSI-Mindestlohnbericht von Malte Lübker und Thorsten Schulten hervor.

Dass die Mindestlöhne oft so deutlich gestiegen sind, führen die Wissenschaftler auf Impulse durch die EU-Mindestlohnrichtlinie zurück: „Durch Referenzwerte für angemessene Mindestlöhne, die im Zuge der Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie in den nationalen Gesetzen verankert wurden, entsteht in vielen Ländern ein Sog hin zu strukturellen Mindestlohnerhöhungen, die über die normalen regelmäßigen Anpassungen hinausreichen.“ Als Richtwert für einen angemessenen Mindestlohn nennt die Richtlinie unter anderem mindestens 60 Prozent des Bruttomedianlohns im jeweiligen Land. Der Medianlohn stellt genau die Mitte der Lohnverteilung dar: Die eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger. Nach den jüngsten verfügbaren Daten der OECD, die sich auf das Jahr 2023 beziehen, haben zuletzt nur Portugal, Slowenien und Frankreich das 60-Prozent-Ziel erreicht. Deutschland verfehlt es mit knapp 52 Prozent des Medianlohns deutlich. Bereits im laufenden Jahr wäre ein Mindestlohn von rund 15 Euro nötig, um die 60-Prozent-Marke zu erreichen, so die WSI-Forscher.

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Infografik: In Deutschland ist der Mindestlohn seit seiner Einführung 2015 real um 16 Prozent gestiegen. In Ost- und Südeuropa waren die Steigerungen im gleichen Zeitraum um ein Vielfaches höher.
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Viele Länder haben ein langfristiges Ziel für den Mindestlohn gesetzlich verankert oder anderweitig festgelegt. Die Bilanz der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass dies dem Mindestlohn einen deutlichen Schub gegeben hat: In Westeuropa verzeichneten Spanien, Portugal und Irland ein deutliches reales Wachstum von mindestens 30 Prozent gegenüber 2015. In Großbritannien ist der Mindestlohn in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt sogar um 76 Prozent gestiegen. Das ehemalige EU-Mitglied verfolgt nun das ehrgeizige Ziel, einen sogenannten Living Wage in Höhe von 66 Prozent des Medianlohns zu erreichen. Auch Irland will sein bisheriges Ziel von 60 Prozent des Medians überprüfen, um perspektivisch einen Living Wage von 66 Prozent einzuführen. 

Bescheidene Bilanz für Deutschland

Deutlich bescheidener fällt die Zehnjahresbilanz in Deutschland aus: Hier stieg der Mindestlohn seit der Einführung 2015 real um 16 Prozent. Dazu trug die Erhöhung auf 12 Euro per Bundestagsbeschluss wesentlich bei, während die Anpassungen unter der Ägide der Mindestlohnkommission über die vergangenen zehn Jahre lediglich inflationsbedingte Kaufkraftverluste ausgeglichen haben, so Lübker und Schulten. „Insbesondere die letzte Entscheidung, die gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter und -vertreterinnen gefällt wurde, hat den Ruf der Kommission in den Augen Vieler beschädigt.“

Inzwischen deutet sich jedoch eine Kurskorrektur der Kommission an: In ihrer neuen Geschäftsordnung hat sie sich darauf festgelegt, sich künftig unter anderem am Wert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns der Vollzeitbeschäftigten zu orientieren und wieder im Konsens zu entscheiden. Die nächste Entscheidung steht zum 30. Juni dieses Jahres an. „Um den Referenzwert von 60 Prozent des Medianlohns dauerhaft als Zielgröße zu etablieren, wäre auch in Deutschland eine Aufnahme in das Mindestlohngesetz sinnvoll“, sagt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI.

Infografik: Mit dem aktuellen Mindestlohn von 12,82 Euro lag Deutschland am 1. Januar 2025 unter den 22 EU-Ländern mit einem gesetzlichen Mindestlohn an vierter Stelle hinter Luxemburg mit 15,25 Euro, den Niederlanden mit 14,06 Euro und Irland mit 13,50 Euro. Da Belgien seinen Mindestlohn zum 1. Februar von 12,57 Euro auf 12,83 Euro angehoben hat, ist Deutschland inzwischen auf den fünften Platz zurückgefallen.
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Mit dem aktuellen Mindestlohn von 12,82 Euro lag Deutschland am 1. Januar 2025 unter den 22 EU-Ländern mit gesetzlichem Mindestlohn an vierter Stelle hinter Luxemburg mit 15,25 Euro, den Niederlanden mit 14,06 Euro und Irland mit 13,50 Euro. Da Belgien seinen Mindestlohn zum 1. Februar von 12,57 Euro auf 12,83 Euro angehoben hat, ist Deutschland inzwischen auf den fünften Platz abgerutscht. Auch in Großbritannien liegt der Mindestlohn mit umgerechnet 13,51 Euro über dem deutschen Niveau, zudem wird er dort zum 1. April auf umgerechnet 14,42 Euro steigen. 

In Süd- und Osteuropa gelten niedrigere Mindestlöhne, wie beispielsweise in Spanien mit 8,37 Euro, Slowenien mit 7,39 Euro und Polen mit 7,08 Euro. Am Ende der Tabelle finden sich Lettland mit 4,38 Euro, Ungarn mit 4,23 Euro sowie Bulgarien mit 3,32 Euro. Durch das kräftige Mindestlohnwachstum in den osteuropäischen Ländern hat sich das Gefälle innerhalb der EU in den letzten Jahren allerdings verringert. In Österreich, Italien und den nordischen Ländern existiert kein gesetzlicher Mindestlohn. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark gestützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Lohnuntergrenze.

Die Unterschiede im Mindestlohnniveau werden teilweise durch die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten relativiert. Der Rückstand Ost- und Südeuropas, wo diese Kosten tendenziell niedriger sind, ist gemessen an der Kaufkraft deutlich geringer, als es die absoluten Werte vermuten lassen. Der deutsche Mindestlohn liegt kaufkraftbereinigt an sechster Stelle in der EU.

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