Quelle: HBS
Böckler ImpulsSteuerpolitik: Der Staat verzichtet auf Milliarden
Aufgrund der Steuer- und Sozialreformen seit 1999 muss der deutsche Staat pro Jahr mit etwa 71 Milliarden Euro weniger auskommen. Dabei wurden die Steuern auf Vermögen und Kapitaleinkünfte deutlich stärker gesenkt als die auf Arbeitseinkommen.
Im vergangenen Jahrzehnt erlebte das deutsche Abgabensystem mehrere Neuordnungen. In der Konsequenz haben die Reformen dazu geführt, dass die Finanzierung der Staatsausgaben die Einkommensungleichheit vertieft, wie eine aktuelle Studie der Wiener Ökonomin Margit Schratzenstaller für die Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Die Forscherin vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) hat dazu die Auswirkungen der jeweiligen Reform im ersten Jahr der vollen Wirksamkeit nach der Gesetzesänderung addiert. Die Einnahmen aus Einkommen- und Unternehmenssteuern sanken nach dieser Berechnung um 91,7 Milliarden Euro, die Belastung des Verbrauchs stieg dagegen um 40,7 Milliarden Euro. Gut die Hälfte der Mehreinnahmen aus Mehrwert- und Ökosteuer floss in die Senkung oder Stabilisierung der Sozialbeiträge. In der Summe fielen die Staatseinnahmen somit um 71 Milliarden Euro.
Kapital am stärksten entlastet: Laut der Studie sank die durchschnittliche effektive Belastung von Arbeitseinkommen zwischen 2000 und 2010 lediglich um 1,7 Prozentpunkte auf 37,4 Prozent. Der effektive Steuersatz auf Vermögen und Kapitaleinkünfte ging dagegen um 6,3 Prozentpunkte zurück. Der Satz von 20,7 Prozent lag damit 2010 um 7 Prozentpunkte unter dem EU15-Durchschnitt. Der Beitrag der Steuern auf Vermögen zum Staatshaushalt hat sich langfristig deutlich verringert, während die Vermögen gleichzeitig gestiegen und mittlerweile auch ungleicher verteilt sind. Schratzenstaller sieht die Ursache dafür in der mehrfachen Senkung der Einkommen- und Körperschaftsteuersätze. Auch die Abschaffung beziehungsweise Aushöhlung vermögensbezogener Steuern wie der Börsenumsatzsteuer, der Vermögensteuer oder der Erbschaft- und Grundsteuer falle hier ins Gewicht.
Trend zu indirekten Steuern: Die Mehrwertsteuer entspricht mittlerweile rund einem Drittel des Gesamtsteueraufkommens und ist damit die Einzelsteuer mit dem größten Ertrag. Zudem ließ in den vergangenen Jahren die Ökosteuer das Gewicht der Energiesteuern steigen. Die indirekten Steuern insgesamt machten in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer mindestens 40 Prozent des Gesamtsteueraufkommens aus. Die direkten Steuern haben dagegen kontinuierlich an Bedeutung verloren. Schratzenstaller merkt kritisch an, dass man diesen Trend als „Schwächung des Leistungsfähigkeitsprinzips“ sehen könne, da indirekte Steuern geringe Einkommen überdurchschnittlich stark belasteten.
Internationale Rahmenbedingungen: Die Studie weist auch darauf hin, dass die Steuer- und Abgabenreformen in Deutschland nicht isoliert zu sehen sind, sondern europaweit zu beobachtenden Trends folgen. So sei in allen EU-Staaten „ein deutlicher längerfristiger Rückgang der nominellen und effektiven Unternehmenssteuersätze sowie der Einkommensteuerspitzensätze zu beobachten“, erläutert die Steuerexpertin. Zudem gebe es einen EU-weiten Trend, die Besteuerung der Kapitaleinkommen aus der progressiven Einkommensbesteuerung herauszulösen. Die Politik könne solche Trends letztlich nicht ignorieren. So hätten sich empirische Indizien gehäuft, dass Unterschiede in den nationalen Steuersystemen durchaus einen gewissen Einfluss auf Standortentscheidungen von Unternehmen haben, vor allem aber die Verschiebung zu versteuernder Gewinne in niedriger besteuernde Länder auslösen.
Lösungsansätze: In einem Aufsatz für die Bundeszentrale für politische Bildung schlägt Schratzenstaller vor, das Steuersystem wieder stärker zur Umverteilung zu nutzen: Höhere Steuern auf Erbschaften und Schenkungen sowie Grund- und Immobilienvermögen seien dafür aufgrund ihrer „Wachstums- und Beschäftigungsverträglichkeit“ durchaus „geeignete steuerliche Instrumente“. Auch bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen bestehe in Deutschland „Spielraum nach oben“. Zudem könne der Staat das System besser nutzen, um etwa die Herausforderungen des Klimawandels anzugehen oder bei der Gleichstellung von Frauen Fortschritte zu erzielen. Ihr Fazit: „Auf dem Weg hin zu einem ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigeren Wachstums- und Entwicklungspfad sind viele Politikbereiche gefragt. Der Steuerpolitik kann und sollte jedoch künftig wieder eine aktivere Rolle zur Erreichung gesellschaftlicher Zielsetzungen zukommen.“
Margit Schratzenstaller: Für einen produktiven und solide finanzierten Staat, Determinanten der Entwicklung der Abgaben in Deutschland – Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Januar 2013;
dies.: Gesellschaftliche Steuerung durch Steuern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 10–11/2013.