Quelle: HBS
Böckler ImpulsDemografie und Rente: Der Arbeitsmarkt ist der Schlüssel
Die Alterung der Bevölkerung stellt das Rentensystem vor Herausforderungen. Mit einer guten Arbeitsmarkt- und Fiskalpolitik lassen sie sich bewältigen.
Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt. Die Zahl der Rentner wächst. Denen stehen künftig weniger Junge gegenüber, die das System mit ihren Beiträgen finanzieren. Wie soll die Rentenversicherung das verkraften? Die gängigen Rezepte sehen steigende Beitragssätze, niedrigere Renten oder ein höheres Renteneintrittsalter vor. Dabei wird jedoch die wichtigste Stellschraube von den meisten Experten nicht berücksichtigt: Entscheidend ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wenn mehr Menschen gut bezahlte Arbeit hätten, ließen sich die größten Probleme des Rentensystems lösen. Dabei geht es um durchaus realistische Ziele, etwa eine Erwerbstätigenquote auf dem Niveau, das Schweden bereits heute hat. Zu diesen Ergebnissen kommen Ökonomen von IMK, WSI, HTW Berlin und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien.
„In vielen Studien werden sehr pessimistische Langfristszenarien erstellt“, schreiben die Wissenschaftler. Die meisten hätten jedoch nur einen eingeschränkten Blick. Vor allem setzen sie auf ungeeignete Indikatoren wie den Altenquotienten, der das Verhältnis der 15- bis 64-Jährigen zu den über 64-Jährigen abbildet. Bis 2060 könnte der Altenquotient der Bevölkerungsschätzung von Eurostat zufolge um 73 Prozent steigen. Der Anteil der Alten in Deutschland wäre also deutlich höher als heute. Die Zahl allein sei jedoch „wenig aussagekräftig“ für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, schreiben die Forscher. Viel wichtiger sei das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern. Schließlich komme es darauf an, ob Menschen ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit selbst bestreiten können und Steuern und Sozialbeiträge zahlen oder aber auf Sozialleistungen angewiesen sind. Im Gegensatz zum Altenquotienten dürfte die sogenannte ökonomische Abhängigkeitsquote bis 2060 nur um 41 Prozent steigen. Und dieses Verhältnis könnte deutlich besser ausfallen, wenn mehr Menschen als heute am Erwerbsleben mit einem Stundenvolumen teilnehmen, von dem sie auch leben können. „Es ist offensichtlich, dass das Verhältnis von ökonomisch Aktiven und Sozialleistungsbeziehern stark von der Arbeitsmarktentwicklung abhängt“, so die Forscher.
Obwohl die offizielle Zahl der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren gesunken ist, gibt es den Wissenschaftlern zufolge hierzulande nach wie vor eine erhebliche Unterbeschäftigung. Vor allem Frauen und Migranten, aber auch Ältere seien im internationalen Vergleich nur schwach in den Arbeitsmarkt integriert. Hier liege ein „enormes ungenutztes Beschäftigungspotenzial“ brach. Die Arbeitsmarktpolitik müsse darauf ausgerichtet sein, die Erwerbsquote deutlich zu steigern. Und sie müsse durch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und den sozialen Wohnungsbau flankiert werden. Notwendig seien auch höhere Ausgaben für Ausbildung, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und altersgerechte Arbeitsplätze. Außerdem spiele die Lohnentwicklung eine entscheidende Rolle. „Letztlich ist es wichtig, dass möglichst viele Personen über verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten und hohe Einkommenssteigerungen am stärkeren Wirtschaftswachstum partizipieren“, schreiben die Forscher. Sonst bestehe die Gefahr, dass mit zukünftigen Produktivitätssteigerungen zwar die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wächst, aber nur einer Minderheit zugutekommt und damit zu wenig dazu beiträgt, die Lasten des demografischen Wandels fair zu verteilen.
Welchen Effekt eine auf mehr Beschäftigung ausgelegte Arbeitsmarktpolitik, zusätzliche Investitionen und höhere Löhne haben können, zeigen die Wissenschaftler anhand einer Modellrechnung. Ergebnis: Die Zahl der Erwerbstätigen ließe sich mit entsprechenden Maßnahmen innerhalb von anderthalb Jahrzehnten um zwei Millionen anheben, was auch die Steuereinnahmen und den privaten Konsum steigern würde. Das Bruttoinlandsprodukt könnte in dieser Zeit um gut fünf Prozent zusätzlich wachsen. Auch auf das Rentensystem würde sich die höhere Erwerbsbeteiligung positiv auswirken. Im besten Fall – bei einer Erwerbstätigenquote, wie sie heute bereits in Schweden existiert – würde die ökonomische Abhängigkeitsquote nur um zehn Prozent steigen, die Folgen für die Alterssicherung wären gut beherrschbar. Vor allem die Renten pro Kopf würden preisbereinigt deutlich steigen. Das Fazit der Forscher: Die Behauptung, höhere Renten seien unfinanzierbar oder gefährdeten den Wirtschaftsstandort, ist haltlos. Mit den richtigen arbeitsmarkt- und fiskalpolitischen Maßnahmen lässt sich der demografische Wandel bewältigen. Zusätzlich empfehlen die Wissenschaftler, die Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung auszubauen, in die auch neue Beamte und Selbstständige einzahlen.
Erik Türk, Florian Blank, Camille Logeay, Josef Wöss, Rudolf Zwiener: Demografischer Wandel und Renten: Beschäftigungspotenziale erfolgreich nutzen, Wirtschaftsdienst 1/2020