Quelle: HBS
Böckler ImpulsFamilienpolitik: Den Förder-Dschungel lichten: Gleiches Geld für alle Kinder
Eine einheitliche Kindergrundsicherung würde Widersprüche im Steuer- und Sozialsystem beseitigen. Damit bekämen nicht mehr die Familien mit den höchsten Einkommen die größte Unterstützung, sondern die mit den geringsten.
Wie viel ist ein Kind dem Staat wert? Die Förderung hängt vom Einkommen der Eltern ab. Heute gibt es drei unterschiedliche Leistungsarten: Kinder von Hartz-IV-Empfängern (unter 14 Jahren) bekommen 60 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene, derzeit 207 Euro im Monat. Durchschnittlich verdienende erwerbstätige Eltern beziehen für ein Kind nur 164 Euro Kindergeld. Spitzenverdiener können statt Kindergeld jedoch die steuerlichen Freibeträge nutzen, was eine monatliche Steuerersparnis von 264 Euro bringt. Wenn steuerlich absetzbare Betreuungskosten - für Kindermädchen oder Privatschule - anfallen, kann die Steuerersparnis noch deutlich größer sein.
Dieses System steht in der Kritik: Die "gravierende Ungleichbehandlung" sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, argumentiert die Darmstädter Juraprofessorin Anne Lenze in einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung mit Blick auf einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Berechnungen der Verteilungsforscherin Irene Becker zeigen zudem, dass der Regelsatz für Kinder im Hartz-IV-Bezug nicht ihrem tatsächlichen Bedarf entspricht - eine Auffassung, der sich kürzlich das Bundessozialgericht angeschlossen hat.
Um die Ungleichbehandlung zu beseitigen, schlagen Wissenschaftler und Wohlfahrtsverbände die Einführung einer Kindergrundsicherung vor. Das heißt: Eltern bekämen das heute nur im Steuerrecht umgesetzte Existenzminimum für jedes Kind ausgezahlt - aktuell 502 Euro im Monat. Dieses neue Kindergeld müsste aber versteuert werden. "Das bisherige System würde dadurch vom Kopf auf die Füße gestellt", sagt Verteilungsexperte Claus Schäfer, Leiter des WSI. Denn Eltern mit niedrigen Einkommen würden die Leistung voll erhalten. Für mittlere Einkommen gäbe es einen etwas geschmälerten Betrag, für Spitzenverdiener nur etwa die Hälfte der Kindergrundsicherung.
Diese Leistung würde besonders die materielle Lage von Kindern verbessern, deren Eltern keine Hartz-IV-Leistungen oder keinen Kinderzuschlag beantragt haben, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten. Durch eine Kindergrundsicherung würde aus der Holschuld armer Eltern eine Bringschuld des Staates, so Schäfer. Heute prüfen die Finanzbehörden nur bei steuerzahlenden Eltern von sich aus, welches die günstigste Lösung ist - Kindergeld oder Kinderfreibetrag.
Ein solcher Umbau der Familienförderung wäre laut Schäfer nicht nur ein kurzfristiges Konjunkturprogramm, sondern würde langfristig stabilisierend wirken: Es begünstige diejenigen mit geringem Einkommen und der größten Ausgabeneigung am meisten - und zwar dauerhaft. Dadurch würden ebenfalls Kinderarmut und daraus folgende individuelle Defizite langfristig vermindert, was letztlich auch dem Arbeitsmarkt und der Produktivität zugute käme.
Aber muss die Förderung zwingend 502 Euro im Monat betragen? Und sollten sehr gut verdienende Eltern überhaupt gefördert werden? Die Höhe einer Kindergrundsicherung sei "völlig unstrittig, da vom Verfassungsgericht in mehreren Urteilen vorgegeben", sagt Schäfer. Das steuerrechtliche Existenzminimum könne nicht unterschritten werden. Ebenfalls aus Entscheidungen des höchsten Gerichts ergebe sich, dass reiche Eltern nicht ausgeschlossen werden könnten: "Millionäre mit Kindern müssen wegen der Kinder vom Staat besser gestellt werden als Millionäre ohne Kinder." Das folge aus dem Prinzip der "horizontalen Gerechtigkeit".
Die Mehrkosten der Kindergrundsicherung schätzt der Wissenschaftler auf etwa 30 Milliarden Euro jährlich. Die Verteilungsforscherin Irene Becker arbeitet im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung derzeit an einer Studie, die die Belastungen für die öffentlichen Haushalte und Entlastungen für verschiedene Privathaushalte im Detail darstellt.
Anne Lenze: Die Verfassungsmäßigkeit eines einheitlichen, der Besteuerung unterworfenen Kindergeldes (pdf), Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, 2007
Irene Becker: Konsumausgaben von Familien im unteren Einkommensbereich (pdf), Arbeitspapier für die Hans-Böckler-Stiftung, 2007
Familienförderung: Zweierlei Maß, in: Böckler Impuls 20/2007
Am Bedarf vorbei gerechnet, in: Böckler Impuls 09/2008