Quelle: HBS
Böckler ImpulsFamilienpolitik: Betreuungsgeld macht Kitas unattraktiver
Ob Kleinkinder eine Tagesstätte besuchen, hängt auch von der sozialen Herkunft ab. Bleiben die Kinder zu Hause, erschwert dies die berufliche Integration von Frauen.
Dass frühkindliche Erziehung und Bildung enormen Einfluss auf die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung haben, ist der Politik seit geraumer Zeit bewusst. So habe der Europäische Rat die EU-Staaten bereits 2002 dazu aufgefordert, mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren zur Verfügung zu stellen, schreiben Heike Wirth und Verena Lichtenberger. Die Soziologinnen vom GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften haben untersucht, wie es um die frühkindliche Erziehung in Europa bestellt ist. Ihre vergleichende Studie zeigt: In welcher Form Kleinkinder betreut werden, hängt von den nationalen Rahmenbedingungen, aber auch vom sozialen Status der Eltern ab. Armutsgefährdete Mütter und Geringqualifizierte erziehen ihre Kinder vor allem selbst.
Als Datenbasis haben die GESIS-Forscherinnen die Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen der Haushalte in der Europäischen Union von 2009 verwendet. In die Auswertung sind Angaben von fast 14.000 Befragten aus 25 EU-Staaten, Norwegen und Island eingeflossen. Zwischen diesen Ländern, so das Ergebnis der Analyse, gibt es markante Unterschiede bei der frühkindlichen Erziehung. Am stärksten verbreitet ist die Betreuung von unter Dreijährigen in Krippen oder Kindertagesstätten in Ländern mit einem gut ausgebauten öffentlichen Angebot: den skandinavischen Staaten, den Niederlanden und Frankreich. In Dänemark etwa nutzen 72 Prozent der Mütter solche Einrichtungen, in Schweden 61 Prozent. Finnland stellt eine Ausnahme dar: Zwar gebe es hier ähnlich wie in den anderen nordischen Ländern ab dem ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und eine umfangreiche Betreuungsinfrastruktur, so Wirth und Lichtenberger. Doch nur 23 Prozent der finnischen Mütter machten von ihrem Rechtsanspruch Gebrauch. Die Wissenschaftlerinnen erklären das mit dem finnischen System der Familienförderung: Der Staat zahlt nur dann ein Betreuungsgeld, wenn kein öffentlicher Betreuungsplatz in Anspruch genommen wird.
Deutschland hinkt im europäischen Vergleich bei der institutionellen Betreuung von unter Dreijährigen hinterher: Lediglich 19 Prozent der Kleinkinder besuchen eine Kita. Als mögliche Ursachen nennen die Autorinnen die mit drei Jahren vergleichsweise lange Elternzeit inklusive der Anerkennung von 36 Monaten Erziehungszeit bei der Rentenversicherung. Zudem sei das Angebot an Krippenplätzen vor allem in Westdeutschland eher gering.
Die Diskrepanzen bei der frühkindlichen Erziehung innerhalb Europas gehen einher mit erheblichen Unterschieden bei der beruflichen Integration von Frauen: In Dänemark haben 82 Prozent der Mütter von unter Dreijährigen einen Job, in den Niederlanden 78 Prozent und in Schweden 76 Prozent – in Deutschland und Finnland dagegen weniger als ein Drittel. „Ein gut ausgebautes Betreuungsangebot erleichtert zweifellos die Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kindern im Krippenalter“, schlussfolgern Wirth und Lichtenberger.
Mit dem Ausbau öffentlicher Betreuungseinrichtungen verfolge die Politik allerdings nicht nur beschäftigungspolitische, sondern auch sozialpolitische Ziele: Sie sollen die kognitive und emotionale Entwicklung und die soziale Integration von Kindern aus armutsgefährdeten Verhältnissen frühzeitig unterstützen. Das Problem: Gerade die besonders förderungswürdigen Kinder kämen in der Regel zu kurz. „Lebt die Mutter in armutsgefährdeten Verhältnissen oder hat einen niedrigen Bildungsabschluss, besteht in nahezu allen Ländern eine verstärkte Tendenz zur ausschließlich elterlichen Betreuung“, schreiben Wirth und Lichtenberger. Im EU-Schnitt betreuen sieben von zehn armutsgefährdeten Müttern ihre Kinder selbst. Über der Armutsschwelle ist es weniger als die Hälfte.
In Deutschland sei diese Differenz zurzeit noch vergleichsweise gering, weil auch viele Hochqualifizierte ihre Kleinkinder zu Hause betreuen, erklären die Autorinnen. Mit der geplanten Einführung des Betreuungsgeldes dürften die sozialen Unterschiede beim Krippenbesuch jedoch zunehmen: „Denn bei ungünstigen Einkommensverhältnissen führen Betreuungsgebühren zu einer zusätzlichen Belastung, das Betreuungsgeld hingegen zu einer Entlastung des Familienbudgets.“
Heike Wirth, Verena Lichtenberger: Form der Kinderbetreuung stark sozial selektiv - Ein europäischer Vergleich der Betreuung von unter 3-jährigen Kindern, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI) 48, Juli 2012