Quelle: HBS
Böckler ImpulsGastgewerbe: Bessere Arbeitsbedingungen gegen Personalnot
Die Corona-Pandemie hat den Mangel an Arbeitskräften im Gastgewerbe verschärft. Das stärkt die Verhandlungsposition der Beschäftigten. Endlich haben sie die Chance, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Ein Beispiel für andere Branchen?
Rund 350 000 Beschäftigte im Gastgewerbe haben während der Coronakrise ihren Job gekündigt – viele von ihnen sind inzwischen in anderen Branchen tätig. Doch schon vor der Pandemie herrschte ein Mangel an Arbeitskräften. Jahrelang haben es Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen versäumt, den Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen zu bieten. Das könnte sich nun grundlegend ändern. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse von Thorsten Schulten vom WSI und Johannes Specht von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten.
Niedrige Bezahlung, überlange Arbeitszeiten, großer Stress und vielfach prekäre Beschäftigungsverhältnisse – das ist eher die Regel als die Ausnahme im Gastgewerbe. In keiner anderen Branche in Deutschland ist der Anteil der Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor so hoch. Sehr hoch sind auch der Anteil der Minijobs und Aushilfskräfte sowie die Fluktuation bei den Beschäftigten. Zwei Drittel der rund 1,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Gaststätten und Hotels arbeiten in Kleinbetrieben mit weniger als 50 Beschäftigten. Zwar gibt es seit Langem Tarifverträge, die Tarifbindung ist jedoch niedrig und der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt bei weniger als zehn Prozent.
„In den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie haben sich die Arbeitgeberverbände nahezu komplett verweigert, ausgelaufene Tarifverträge zu erneuern“, schreiben Schulten und Specht. „Das Ergebnis war ein tarifpolitischer Stillstand.“ Die Situation änderte sich erst, als immer deutlicher wurde, dass sich der Arbeitskräftemangel noch einmal deutlich verschärft hat. Hinzu kam die Ankündigung der neuen Bundesregierung, den gesetzlichen Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, was den Druck erhöhte, die bestehenden Tarifverträge an die neue Untergrenze anzupassen. Vor diesem Hintergrund kam es ab Herbst 2021 zu einer Wiederaufnahme der Tarifverhandlungen. Auch wenn diese „zunächst äußerst schwierig und konfliktreich“ begannen, konnten innerhalb weniger Monate alle ausgelaufenen Tarifverträge erneuert werden. Die neuen Tarifverträge sehen erhebliche Lohnsteigerungen von bis zu 30 Prozent vor. In allen Tarifregionen wurden nicht nur die Einstiegslöhne auf mehr als zwölf Euro, sondern auch die Löhne aller anderen Entgeltgruppen erhöht, in einigen Fällen ging dies einher mit einer umfassenden Reform der gesamten Entgeltstruktur. Für die Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben hat sich die Lage damit verbessert, für viele andere aber noch nicht.
„Die deutliche Erhöhung der Tariflöhne im Gastgewerbe ist ein wichtiger Schritt, um die Arbeit in der Branche wieder attraktiver zu machen und dem Arbeitskräftemangel zu begegnen“, schreiben Schulten und Specht. Gleichwohl sei der Nachholbedarf nach wie vor groß. Die Branche müsse sich künftig noch deutlicher vom Mindestlohn absetzen. Zudem müssten sich die Arbeitsbedingungen verbessern, was vor allem eine beschäftigtenfreundlichere Regelung der Arbeitszeiten bedeutet. Dafür brauche es eine Stärkung der Tarifbindung durch Allgemeinverbindlicherklärungen, die für alle Unternehmen der Branche gleiche Mindeststandards schaffen. So könnte das Gastgewerbe sogar zum Vorbild für andere Branchen werden, indem es beweist: Selbst unter schwierigen Ausgangsbedingungen ist es möglich, eine grundlegende tarifpolitische Aufwertung einzuleiten.
Thorsten Schulten, Johannes Specht: Tarifpolitischer Aufbruch im Gastgewerbe?, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 91, Juli 2022