Quelle: HBS
Böckler ImpulsInklusion: Besser gemeinsam lernen
Bildungsgerechtigkeit für Benachteiligte schaffen – dazu bekennt sich das deutsche Bildungssystem seit langem. In der Praxis ist vieles bis heute völlig unklar.
2009 hat die Bundesrepublik die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert, die eine inklusive Schulausbildung fordert. Die Idee, Menschen mit bestimmten körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen in wohnortnahen Regelschulen und nicht in separaten Spezialeinrichtungen zu beschulen, wird vielerorts schon seit den 1970er-Jahren verfolgt. Allerdings fehlt es der Inklusion insgesamt an schlüssigen Konzepten, klaren Definitionen und Qualitätsindikatoren. Das ist das Ergebnis einer Reihe von Forschungsarbeiten, die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Inklusion – Bildung – Schule” der Hans-Böckler-Stiftung entstanden sind.
Zunächst wäre die Frage zu klären, wer überhaupt als besonders förderungsbedürftig betrachtet wird – nur junge Menschen mit einer Behinderung im medizinischen Sinn oder einem diagnostizierten schulischen sonderpädagogischen Förderbedarf oder beispielsweise auch solche, die infolge von Armut oder Migrationsgeschichte Schwierigkeiten haben, ohne besondere Förderung in der Schule mitzukommen? Dabei stehen die Beteiligten grundsätzlich vor einem Problem: Einerseits profitieren die Betroffenen von besonderer Zuwendung, andererseits kann jede Form von spezieller Behandlung auch stigmatisierend wirken. Forschende sprechen hier vom „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“, erklärt Vera Moser, Professorin für Inklusionsforschung an der Universität Frankfurt am Main und Sprecherin des Kollegs. Die über 100 Jahre alte Praxis, Schülerinnen und Schüler mithilfe eines umfangreichen Personalbogens – heute: Sonderpädagogisches Überprüfungsverfahren – als Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu identifizieren und eine vergleichsweise aufwendige zusätzliche schulische Unterstützung zu legitimieren, wird bis heute im Grundsatz fortgesetzt, auch wenn sich das Vokabular geändert hat und es nicht mehr darum geht, „nachweislich Schwachsinnige“ an die Hilfsschule zu überweisen. Einige Bundesländer wie Bremen, Berlin und Hamburg verzichten dagegen inzwischen auf individuelle Diagnosen im Primarschulbereich und stellen Grundschulen zusätzliche sonderpädagogische Expertise pauschal zur Verfügung.
Die tradierte „sonderpädagogische Diagnostik im Sinne einer Persönlichkeitsdiagnostik“ wirkt in vieler Hinsicht nach: Selbst an inklusiven Schulen findet die sonderpädagogische Förderung oftmals getrennt vom Regelunterricht statt. Dabei steigt die Quote der Schülerinnen und Schüler, denen Förderbedarf attestiert wird, an inklusiven Regelschulen tendenziell an, ohne dass es zu einem entsprechenden Rückbau der Förderschulen kommt: das „Inklusionsparadox“. Die Frage der Beschulung – Regel- oder Förderschule – von Schülern und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird häufig als zentral für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention angesehen, statt die Entwicklung inklusiver Schulen in einem weiteren Sinne in Angriff zu nehmen. Ein Grund: Es fehlen Kommissionen auf Bundesebene, die in Abstimmung mit der Kultusministerkonferenz klare Vorgaben für inklusive Schulen vorlegen. Es sollte klargestellt werden, dass es bei Inklusion um mehr geht als nur um die Platzierung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf, so Moser.
Die Leistungen des Schulsystems werden, Stichwort PISA, in vielfältiger Weise evaluiert. In Sachen Inklusion erkennen die Forschenden jedoch Defizite. Die Bundesländer hätten kaum weiterreichende Vorstellungen von Inklusion und insgesamt fehlt eine bundesweit einheitliche Linie. Die eingesetzten Instrumente zur Qualitätsmessung seien sehr unterschiedlich und häufig unzureichend: Geht es nur darum, wie viele Benachteiligte am Ende einen Abschluss bekommen, oder geht es auch um soziale Integration und Wohlbefinden der Betroffenen? Und wie geht es nach der Schule weiter, sowohl was die Jobperspektiven als auch die Lebenszufriedenheit betrifft? Die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit erfordert nach Auffassung der Forschenden zunächst ein konkretes und einheitliches Qualitätsverständnis und entsprechende Messinstrumente für Schulen sowie auch anschließende berufliche und hochschulische Bildung. Dazu gehöre auch eine sensible Bestimmung potenziell vulnerabler Gruppen, die nicht diskriminierend wirkt. Interessenverbände von Menschen mit Behinderung oder anderen „Gruppen, die im schulischen Kontext Diskriminierung erfahren“, müssten dabei stärker einbezogen werden. Der Fokus auf Schule sei um weitere Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe zu erweitern, damit auch längerfristige Entwicklungen von In- und Exklusionsprozessen beobachtet werden können.
Andere Forschungsarbeiten aus dem Kolleg zeigen, wie die pädagogischen Ziele im politischen Kampf der Partikularinteressen untergehen, wie sich etwa Schulverwaltung, Schulleitungen, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer gegen Neuerungen sträuben. Den Mitgliedern des Graduiertenkollegs zufolge bleibt noch viel zu tun, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Dabei gehöre das Thema Inklusion bekanntermaßen nicht nur auf die Ebene der Schulpolitik, sondern auch in den Unterricht selbst: Die „Demokratieerziehung in Schulen“ müsse „Differenzwahrnehmungen“ thematisieren, um Ausgrenzung zu verhindern.