Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitszeit und Löhne: Beschäftigte ohne Tarif arbeiten länger
Tarifverträge sorgen bundesweit für bessere Arbeitsbedingungen, zeigt eine Analyse des WSI. Deshalb ist es wichtig, die Tarifbindung zu stärken.
Die Arbeitsbedingungen sind in tarifgebundenen Unternehmen durchweg besser als in Unternehmen ohne Tarif. Arbeitgeber, die sich an Tarifverträge halten sind also für Beschäftigte attraktiver. So arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im bundesweiten Schnitt wöchentlich fast eine Stunde länger und verdienen gleichzeitig deutlich weniger als die Kollegen in Betrieben mit Tarifbindung. „Diese Unterschiede unterstreichen die Dringlichkeit, die Tarifbindung in Deutschland zu stärken“, schreiben Malte Lübker und Thorsten Schulten vom WSI in einer aktuellen Analyse. Die Forscher haben die Tarifbindung für Deutschland insgesamt und auf Ebene der einzelnen Bundesländer anhand des IAB-Betriebspanels bis zum Jahr 2017 untersucht.
54 Prozent der Beschäftigten in Deutschland können auf einen Tarifvertrag zählen. Im Vergleich der Bundesländer liegt Nordrhein-Westfalen mit 62 Prozent vorn, Schlusslicht ist Sachsen mit nur 39 Prozent. Gemeinsam ist allen Bundesländern, dass die Arbeitsbedingungen in wesentlichen Punkten wie Arbeitszeit und Entgelt in tariflosen Betrieben deutlich schlechter sind. Teilweise lassen sich die Unterschiede damit erklären, dass tarifgebundene Betriebe im Schnitt größer und in Branchen mit tendenziell höheren Löhnen tätig sind. Doch auch um diese Effekte bereinigt bleibt die Differenz eklatant: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten im Schnitt wöchentlich 52 Minuten länger und verdienen gut zehn Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifbindung, die hinsichtlich der Betriebsgröße, des Wirtschaftszweiges, der Qualifikation der Beschäftigten und des Standes ihrer technischen Anlagen identisch sind.
Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede: Im Westen ist die Mehrarbeit in tariflosen Betrieben besonders ausgeprägt, und zwar auch dann, wenn man strukturelle Effekte wie Betriebsgröße und Branche herausrechnet. In Baden-Württemberg arbeiten Beschäftigte in tariflosen Unternehmen regulär jede Woche 64 Minuten zusätzlich, in Bremen sind es 62 Minuten. Über das Jahr gesehen entspricht dies in etwa sechs zusätzlichen Arbeitstagen – und dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass Beschäftigte ohne Tarifvertrag häufig weniger Urlaubstage haben. Beim Entgelt zeigen sich die größten Nachteile in den neuen Bundesländern: In Sachsen-Anhalt verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben monatlich 16,8 Prozent weniger als Arbeitnehmer in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung, in Brandenburg beträgt der Rückstand sogar 18,5 Prozent. Um auf ein volles Jahresgehalt ihrer Kollegen mit Tarifvertrag zu kommen, müssen Beschäftigte in tariflosen Betrieben dort also bis in den März des Folgejahres hinein arbeiten.
Bedrohliche Entwicklung
Mit Tarifverträgen seien in der Bundesrepublik sukzessive kürzere Wochenarbeitszeiten durchgesetzt, Lohnerhöhungen festgeschrieben oder Wahlmöglichkeiten zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit eingeführt worden, schreiben Lübker und Schulten. Vor diesem Hintergrund sei es „eine bedrohliche Entwicklung“, dass die Tarifabdeckung in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgenommen hat – zur Jahrtausendwende hatten noch 68 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag. Ein Grund für diese Entwicklung war einerseits der wirtschaftliche Strukturwandel: In industriellen Großbetrieben sind Arbeitsplätze verloren gegangen, während in kleinteiligeren Bereichen neue entstanden sind. Dies macht es für Gewerkschaften heute schwieriger, Mitglieder zu organisieren. Doch auch wo es Gewerkschaften gelingt, in Betrieben Fuß zu fassen, stößt die Durchsetzung von Tarifverträgen zum Teil auf heftigen Widerstand der Arbeitgeber, wie gegenwärtig das Beispiel Amazon zeigt. Zusätzlich trägt zur Erosion bei, dass sich auch Arbeitgeber aus Branchen, in denen wie im Einzelhandel und der Metall- und Elektroindustrie Tarifverträge traditionell verwurzelt sind, einer tariflichen Bezahlung entziehen. Durch die Einführung von sogenannten OT-Mitgliedschaften haben einige Arbeitgeberverbände diese Entwicklung vorangetrieben. Eine OT-Mitgliedschaft erlaubt es Unternehmen, einem Arbeitgeberverband beizutreten, ohne sich an einen Tarifvertrag halten zu müssen. Damit gelten die in Tarifverträgen ausgehandelten Regeln nur noch für einen Teil der Mitglieder.
Bundesregierung soll Tarifautonomie stärken
„Damit Tarifautonomie funktionieren kann, braucht es neben starken Gewerkschaften handlungsfähige Arbeitgeberverbände, die für ihre jeweilige Branche Standards setzen können“, erklären die Wissenschaftler. Gleichzeitig sei auch die Regierung gefordert: Die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen könne die Reichweite von bereits geschlossenen Tarifverträgen erhöhen. Zudem verfügten Bund, Länder und Gemeinden mit der öffentlichen Auftragsvergabe und der Wirtschaftsförderung über einen zusätzlichen Hebel – sie könnten Tariftreue zur Voraussetzung für die Auftragsvergabe oder Förderung machen. Eine Möglichkeit, Anreize für mehr Tarifbindung zu schaffen, besteht darin, keine Fördermittel an Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten zu vergeben, wenn sie Löhne unterhalb des Tarifniveaus zahlen.
Malte Lübker, Thorsten Schulten: Tarifbindung in den Bundesländern. Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten (pdf), Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 86, WSI, Oktober 2019