Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitswelt: Ausbeutung ist nicht passé
Wie viele Fälle von strafrechtlich relevanter Arbeitsausbeutung es in Deutschland gibt, ist unklar. Bekannt ist jedoch, wie die Erpressungsmechanismen funktionieren.
Es gibt sie, heute, mitten in Deutschland: ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die zum Teil den Charakter moderner Sklaverei haben. Zwar wurde der Paragraf 233 im Strafgesetzbuch, der Freiheits- oder Geldstrafen für die Ausbeutung der Arbeitskraft von Personen in Zwangslagen vorsieht, erst 2016 verschärft. Doch in der Praxis gibt es ein „klares Kontrollversagen“, so René Böhme von der Universität Bremen, der das Phänomen mit Förderung der Hans-Böckler-Stiftung und der Arbeitnehmerkammer Bremen untersucht hat.
Der Forscher hat Studien ausgewertet, Betroffene sowie Expertinnen und Experten interviewt und über 200 Beratungsstellen in Deutschland online befragt. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Reinigungsbranche, in der es neben Gastronomie, Hotelgewerbe, Logistik, Lagerei und Bauwirtschaft besonders viele problematische Arbeitsverhältnisse gibt. Aus den Erhebungen ergibt sich ein facettenreiches Bild, das typische Konstellationen zeigt. Allerdings: Wie viele Fälle von Arbeitsausbeutung es in Deutschland insgesamt gibt, ist schwer zu sagen. Eine Hochrechnung des Forschers kommt auf 100 000 bis 200 000 Fälle pro Jahr. In die Kriminalstatistik schaffen es jährlich aber nur 10 bis 30 Fälle. Das hat viele Gründe. Vor allem fehlen Betroffenen oft die Sprachkenntnisse, der soziale Rückhalt, die finanziellen Mittel und die Zeit, um sich gegen unzulässige Arbeitsbedingungen zu wehren. Beispielsweise trauen sich viele Ausgebeutete nicht, sich zu beschweren, weil die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber gleichzeitig die Vermieterin oder der Vermieter ist.
Was ist Ausbeutung?
Grob gesagt liegt Arbeitsausbeutung im strafrechtlichen Sinn vor, wenn Menschen „aus rücksichtslosem Gewinnstreben“ zu auffällig schlechteren Bedingungen beschäftigt werden, als es für eine vergleichbare Tätigkeit üblich ist. Praktisch kann das etwa heißen:
- kein Arbeitsvertrag, keine Zeiterfassung, keine klaren Regeln, die es ermöglichen Arbeitsleistung und Vergütung ins Verhältnis zu setzen,
- Ignorieren von Mindestlohn und Tarifverträgen, Nichtvergütung von Überstunden und Doppelschichten, wahrheitswidrige Unterstellung von Fehlzeiten, Verbuchung ausgefallener Arbeitseinsätze als Urlaubszeiten,
- Nichtauszahlung von Löhnen oder Lohnbestandteilen, falsche Lohnabrechnungen,
- unrealistische Zeitvorgaben und Nichtvergütung der tatsächlich benötigten zusätzlichen Stunden,
- Auszahlung des Lohns nur für erfolgte Arbeitseinsätze statt für die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit,
- hohe Lohnabzüge für Wohnraum und Arbeitsmittel,
- Schwarzarbeit, Nichtabführung von Sozialabgaben,
- Überschreitung der zulässigen Stundenzahl bei Minijobs,
- unzulässige Kettenbefristungen,
- Vorenthalten von Urlaubsansprüchen, keine Entgeltfortzahlung bei Krankheit, Arbeit auch im Krankheitsfall,
- unrechtmäßige Kündigungen, etwa bei Krankheit oder Arbeitsunfall,
- fehlende Unterweisungen zur Arbeitssicherheit, unzureichendes Arbeitsmaterial,
- psychischer Druck und rigorose Vorschriften, etwa ein Verbot, während der Arbeitszeit zu essen und zu trinken.
Wie entkommen Beschäftigte – häufig aus Rumänien, Bulgarien, Moldawien, Syrien, der Ukraine oder den Ländern Westafrikas und oft weiblich – solchen Verhältnissen? Selten finden sie den Weg zu Beratungsstellen oder anderen Organisationen und bekommen sozialstaatliche Unterstützung, bis sie ihre Ansprüche gegen den Arbeitgeber vor Gericht durchgesetzt haben. Üblicherweise wechseln sie die Stelle oder ziehen in ihr Heimatland beziehungsweise einen anderen europäischen Staat – und die Unternehmen machen mit neuem Personal weiter wie zuvor.
Daher müssen dem Forscher zufolge vor allem die Kontrollen arbeitsrechtlicher Standards von außen verbessert werden. Ein Problem dabei sind schon die verschiedenen Zuständigkeiten: Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll, Arbeitsschutzbehörden auf Länderebene, Arbeitsagentur, Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle sowie die Polizei. In Österreich gebe es mit der Arbeitsinspektion und Finanzpolizei dagegen „zuständige Behörden mit klarem Untersuchungsauftrag“. Zudem braucht es Personal – derzeit ist beispielsweise mehr als jede vierte Stelle bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit unbesetzt. Besser finanzierte Unterstützungsangebote und verlässliche Sozialleistungen für Ausgebeutete sollten hinzukommen. Denn: „Es geht um mehr als Einzelfälle. Arbeitsausbeutung gehört in manchen Branchen zum System“, so Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.
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René Böhme: Arbeitsausbeutung im Reinigungsgewebe, Working Paper der HBS-Forschungsförderung Nr. 333, Mai 2024