Quelle: HBS
Böckler ImpulsTransformation: Auf die eigenen Leute setzen
Viele Unternehmen bauen im einen Bereich Personal ab und finden im anderen keine Fachkräfte. Strategische Qualifizierung beugt vor.
Die Idee ist nicht ganz neu. Schon als in den 1980er-Jahren der Niedergang der deutschen Unterhaltungselektronik – Grundig, Telefunken, Saba – begann, schmiedeten Manager und Betriebsräte „Beschäftigungspläne“. Das Ziel: Weiterbildung statt Entlassung, Vorbereitung der Beschäftigten auf den Einsatz in neuen Geschäftsfeldern. Der Qualifizierung sollte „bei der Bewältigung des Strukturwandels die zentrale Brückenfunktion“ zukommen, schreiben Tim Harbecke und Gernot Mühge von der Hochschule Darmstadt in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung. Die Unternehmen sollten „den Weg über den externen Arbeitsmarkt“ vermeiden, also nicht erst „schlechter qualifizierte Beschäftigte“ entlassen und „anschließend besser qualifizierte Bewerber neu einstellen“ müssen.
Allerdings, so die Wissenschaftler, hat das Konzept der Beschäftigungspläne die Erwartungen nicht erfüllt. Zum einen ist es oftmals nicht gelungen, die Unternehmen hinreichend zu diversifizieren und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Zum anderen haben die internen Arbeitsmärkte der Unternehmen nicht funktioniert wie erhofft: Letztlich sind die offenen Stellen des internen Arbeitsmarkts gar nicht mit den Teilnehmenden besetzt worden, die die formale Qualifikation dafür erworben hatten. Später, etwa im Kontext der Privatisierung von Post, Bahn und Telekom, hat man sich daher bemüht, die Personalvermittlung im Unternehmen durch eigene Abteilungen aktiv zu unterstützen. Solche Personalvermittlungsabteilungen (PVA), sozusagen „interne Arbeitsämter“, die umfangreiche Beratungs- und Unterstützungsleistungen anbieten, sind auch in Unternehmen der Privatwirtschaft ins Leben gerufen worden, wenn Restrukturierungsprozesse anstanden – insbesondere in Großunternehmen mit starker Mitbestimmung und starkem Kündigungsschutz oder tariflich ausgehandelten Beschäftigungsgarantien.
Zur Bewältigung der anstehenden sozial-ökologischen Transformation müsse das PVA-Konzept nun weiterentwickelt werden, schreiben Harbecke und Mühge. Vor allem gelte es, eine möglichst langfristige strategische Personalplanung zu etablieren, die unmittelbar aus der Unternehmensstrategie folgt – statt sich über Personalfragen erst Gedanken zu machen, nachdem die Restrukturierung beschlossen ist. Was die Sache heute allerdings noch schwieriger macht als in früheren Zeiten: Das Tempo des Wandels hat sich beschleunigt und häufig sind nicht nur andere, sondern höhere Qualifikationen als die vorhandenen nötig. Der Umstieg auf Elektromobilität erfordert etwa weniger Facharbeiterinnen und Facharbeiter, aber mehr IT-Ingenieure und -Ingenieurinnen. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, schlagen die Autoren die Einrichtung von „Agenturen für Qualifizierung und Fachkräftesicherung“ (AQFa) in Unternehmen vor.
Beim AQFa-Konzept geht es darum, mehr als nur überschaubare Zusatzqualifikationen zu erwerben, teilweise reicht die Bandbreite von IHK-geprüften Ausbildungen über Techniker- und Meisterfortbildungen bis hin zu einem Masterstudium. Interessierte Beschäftigte können ihre Arbeitszeit dauerhaft oder phasenweise reduzieren, bekommen teilweise zusätzliche finanzielle Unterstützung vom Arbeitgeber oder aus Mitteln der Arbeitsagentur und behalten ein Rückkehrrecht auf ihren alten Arbeitsplatz. Ansätze, die Elemente dieses Konzepts enthalten, existieren bereits in der Praxis. Harbecke und Mühge haben Interviews mit Beschäftigten aus dem Personalmanagement sowie Betriebsräten und Betriebsrätinnen von sechs Unternehmen aus vier Branchen geführt. Alle Unternehmen haben mehr als 10 000 Beschäftigte und eine überdurchschnittlich stark gewerkschaftlich organisierte Belegschaft. Die Initiative zur Qualifizierungsoffensive ging oft auf die Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten zurück.
Das größte Problem aus Sicht der Interviewten: Heute den Fachkräftebedarf in den kommenden Jahren vorherzusagen, ist enorm schwierig. Für die Motivation der Beschäftigten ist es aber wichtig, ihnen eine klare Perspektive zu bieten. Sie wollen so sicher wie möglich sein, dass sich eine längere Weiterbildung schließlich in Form einer höheren Position im Unternehmen auszahlt. Insofern sei der AQFa-Ansatz „voraussetzungsvoll“, schreiben Harbecke und Mühge. Und natürlich wird nicht aus jedem Facharbeiter und jeder Facharbeiterin ein Ingenieur oder eine Ingenieurin. Aber auch wenn nur ein Teil der Beschäftigten die Möglichkeiten in Anspruch nimmt, wird damit Raum für „Ringtauscheffekte“ geschaffen, die zur Beschäftigungs- wie Fachkräftesicherung beitragen.
Tim Harbecke, Gernot Mühge: Beschäftigungssicherung durch strategische Qualifizierung, Mitbestimmungspraxis Nr. 47, August 2022