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Attraktive statt längere Arbeitszeiten Böckler Impuls

Fachkräftemangel: Attraktive statt längere Arbeitszeiten

Ausgabe 14/2022

In Deutschland fehlen Fachkräfte. Müssen deshalb alle länger arbeiten? Es gibt sehr viel bessere Alternativen, wie eine Analyse zeigt.

Rente mit 70 und generell längere Wochenarbeitszeit – solche Forderungen kommen von Arbeitgeberverbänden und Teilen der Politik, die damit dem demografischen Wandel und einem drohenden Fachkräftemangel begegnen wollen. Doch die Rechnung geht nicht auf. Wenn Beschäftigte länger arbeiten müssen und später in Rente gehen, könnte dies die Engpässe sogar verschärfen und die Sozialkassen stärker belasten. Die Lösung liegt vielmehr in flexiblen Arbeitszeitmodellen und einer höheren Erwerbsbeteiligung – vor allem von Frauen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Eike Windscheid und Yvonne Lott vom WSI. 

Bei verlängerten Arbeitszeiten stiegen die psychischen und körperlichen Belastungen erheblich, gleichzeitig sänken Leistung und Produktivität, schreiben der Arbeitssoziologe und die Arbeitszeitforscherin. Es drohten Arbeitsausfälle, etwa durch Unfälle oder stressbedingte Erkrankungen, die wiederum zu höheren Sozialausgaben führen. Oft müssten die verbliebenen Beschäftigten solche Ausfälle durch Mehrarbeit auffangen, was wiederum deren Gesundheitsrisiken vergrößert. Über Jahre und Jahrzehnte einer Erwerbsbiografie könnten überlange Arbeitszeiten der Gesundheit erheblich schaden – verschärft noch durch im Alter abnehmende Widerstandsfähigkeit.

Zudem erschwerten längere Arbeitszeiten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – insbesondere bei Müttern könnte dies mangels Alternativen zur Reduzierung der vereinbarten Arbeitszeit oder zum kompletten Rückzug aus der Berufstätigkeit führen. Dass – meist weibliche – Beschäftigte aufgrund von Arbeitsverdichtung in Teilzeit wechseln, sei beispielsweise in der Pflege längst zu beobachten, wodurch sich der Fachkräftemangel dort vergrößere, so die Forschenden. Eine Ausweitung von Arbeitszeiten stehe außerdem der Weiterbildung entgegen: Um Beschäftigte für die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen fit zu machen, sei es zentral, berufliche und betriebliche Qualifizierung auszubauen. Dies sei auch im Interesse von Arbeitgebern, die ihre Fachkräftebasis sichern wollen. Müssen die Beschäftigten länger arbeiten, fehlten jedoch Zeit und Motivation, sich weiterzubilden. 

Nach Analyse von Lott und Windscheid ließe sich der Arbeitskräftemangel eher beheben, wenn es gelingt, den hohen Anteil kurzer Teilzeit in Deutschland zu reduzieren, Qualifizierung und Gesundheitsschutz im Arbeitsleben auszubauen und die Vereinbarkeit weiter zu verbessern. Etwa drei Viertel der vollzeitbeschäftigten Eltern wünschten sich kürzere Arbeitszeiten, um eine gleichberechtigte Erwerbsteilhabe leben zu können. Dabei stehe längere, „vollzeitnahe“ Teilzeit für beide hoch im Kurs – die Gesamtarbeitszeit pro Elternpaar könne dadurch substanziell länger sein als in der bisher unter Eltern weit verbreiteten Kombination von Vollzeit und kurzer Teilzeit. „Gefragt sind flexible Arbeitszeitmodelle, die einerseits Eltern einen frühen Wiedereinstieg ermöglichen und andererseits vollzeitnahe Teilzeitmodelle beinhalten, in denen eine berufliche Weiterentwicklung möglich ist – und weder Stigmatisierung noch berufliche Nachteile zu befürchten sind.“ Wichtig dafür seien sogenannte Wahlarbeitszeiten, bei denen Beschäftigte bei Dauer und Lage der Arbeitszeit mitentscheiden können. Studien zeigten, dass mehr als drei Viertel der Beschäftigten, die solche Möglichkeiten haben, eine verbesserte Vereinbarkeit wahrnehmen. 

Für die Stärkung der Sozialversicherungen kommt nach Analyse der Forschenden ein Modell in Betracht, wie es in Österreich üblich ist: eine Versicherung, in die alle Erwerbstätigen einzahlen – sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch Beamtinnen und Beamte und Selbstständige. Dies entlaste nicht nur die Sozialkassen und entschärfe soziale Ungleichheiten, sondern führe auch zu insgesamt höheren Rentenzahlungen. 

Die vermeintlich simple Gleichung: „Längere Arbeitszeiten sorgen für höhere wirtschaftliche Leistung und mehr Geld in den Sozialkassen“ funktioniere so nicht, lautet das Fazit der Forschenden. Die empirische Evidenz spreche für flexible Arbeitszeitmodelle, „um eine hohe, adäquate und nachhaltige Erwerbsbeteiligung in allen Gruppen sicherzustellen“. Daneben sei es wichtig, die oft pauschalen Klagen über einen Mangel an Bewerberinnen und Bewerbern richtig einzuordnen. Denn in einem erheblichen Teil der Fälle sei das Problem hausgemacht, weil die Arbeitgeber keine attraktiven Gehälter oder beschäftigtenfreundlichen Arbeitszeiten anbieten wollen.

Eike Windscheid, Yvonne Lott: Arbeitszeitverlängerung? Vier klügere Strategien, HBS-Kommentar Nr. 2, August 2022

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