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HBS Böckler Impuls

Einkommensverteilung: Armut: Keine Folge der Statistik

Ausgabe 20/2006

Würde die Zahl der Armen in Deutschland sprunghaft steigen, wenn die oberen Zehntausend auf einen Schlag hundertmal mehr verdienten - weil ein höheres Durchschnittseinkommen auch die Armutsgrenze nach oben verschiebt? Der Statistiker Bernd Eggen zeigt: Solche Einwände gegen relative Armutsdefinitionen sind zwar eingängig, aber falsch.

Armutsquoten werden anhand unterschiedlicher Messlatten berechnet. Ausgangspunkt für die statistische Definition von Armut ist entweder das Durchschnittseinkommen oder der so genannte Median. Das Durchschnittseinkommen, genauer: das arithmetische Mittel der Einkommen, ist die Summe aller Einkommen geteilt durch die Zahl der Personen.

Für das Medianeinkommen hingegen ist nicht die Summe der Einkommen entscheidend, sondern deren Verteilung auf die einzelnen Personen: Es ist das Einkommen desjenigen, der genau in der Mitte stünde, wenn sich alle Personen nach ihrem Einkommen sortiert in einer Reihe aufstellen würden. Anders formuliert: Die ärmere Hälfte hat höchstens, die reichere mindestens das Medianeinkommen. Weil es die Verteilung besser abbildet, wählen wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute für entwickelte Länder in der Regel das Medianeinkommen als Bezugspunkt zur Definition von Armut - und nicht den Einkommensdurchschnitt.

"Im Vergleich zum arithmetischen Mittel wird der Median nicht durch alle einzelnen Einkommenswerte bestimmt, vor allem nicht durch sehr niedrige und sehr hohe Einkommen", erläutert Eggen. Das heißt zum Beispiel: Überproportionale Zuwächse der Besserverdiener verschieben den Median nicht nach oben. Umgekehrt ließen Einkommensverluste, die sich auf das untere Ende der Skala beschränken, den Wert ebenfalls unberührt.

Als Armutsgrenze verwenden Forschungsinstitute bestimmte Prozentsätze des Medianeinkommens, in der Regel 60, 50 oder 40 Prozent. Eggen benutzt für sein Modell die 50-Prozent-Grenze. Ausgehend von einer fiktiven - aber nicht unrealistischen - Ausgangsverteilung analysiert er anhand von drei möglichen Entwicklungsszenarien, wie sich die Armut statistisch verändert. Ein Ergebnis: Die Einkommen können - auch statistisch - so verteilt sein, dass es zwar Reichtum, aber keine Armut gibt.

Szenario 1: Der Fahrstuhl-Effekt. Alle Einkommen steigen stark an, ohne dass sich zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen die Proportionen verschieben. Eine solche Entwicklung erlebte Deutschland in den 50er- und 60er-Jahren. Umfang und Ausmaß der Armut bleiben unverändert: Die Armutsschwelle steigt sowohl bei Verwendung des arithmetischen Mittels als auch nach dem Median-Konzept. Die Armutsquote als die Zahl derjenigen, deren Einkommen unter der Armutsschwelle liegt, bleibt in beiden Fällen gleich.

Szenario 2: Immer reicher - immer ärmer. Die niedrigsten Einkommen sinken noch weiter, die Reichsten gewinnen erheblich hinzu. Eine solche Tendenz ist in den USA seit dem Ende der 70er-Jahre festzustellen: Die Spitzenverdiener in den USA, das sind rund 1 Prozent der Bevölkerung, haben in den letzten 30 Jahren ihr Realeinkommen um über 115 Prozent steigern können. Dagegen liegt in der untersten Einkommensschicht das reale Einkommen nach Steuern sogar unter dem Niveau von Mitte der 70er-Jahre. Dass "sich die Schere zwischen Reich und Arm erheblich geöffnet" hat, gelte in zunehmendem Maße auch für Deutschland, wie der Armuts- und Reichtumsbericht von 2005 zeigt. Mit dem arithmetischen Mittel gemessen, steigt die Armutsquote. Bei Verwendung des Medians bleibt die Zahl der Armen gleich, sie fallen jedoch tiefer unter die Armutsgrenze.

Szenario 3: Reichtum ohne Armut. Alle Einkommen steigen, auch die der Reichsten. Allerdings legen die unteren  stärker zu als die übrigen. Dieses Szenario spielt die Forderungen einiger Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland durch: Keine weitere Lohnzurückhaltung, sondern wieder deutlich steigende Einkommen der Arbeitnehmer. Die Armutsquote ändert sich nicht, wenn das arithmetische Mittel als Maßstab dient. Nach dem Median-Konzept verschwindet die Armut vollständig. "In einer reichen Gesellschaft ist Armut weder statistisch noch real zwingend notwendig", resümiert der Forscher.

  • Die gemessene Armut ist kein statistischer Effekt, sondern eine reale Größe. Zur Grafik

Bernd Eggen: Das Kreuz mit der Armut in einer reichen Gesellschaft,
in: WSI-Mitteilungen 3/2006

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