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Arm und ausgeschlossen Böckler Impuls

Verteilung: Arm und ausgeschlossen

Ausgabe 18/2022

Schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten ist die Ungleichheit in Deutschland gestiegen. Die aktuelle Krise dürfte das Problem verschärfen.

Die Armut in Deutschland hat in der vergangenen Dekade deutlich zugenommen – obwohl es für die Wirtschaft in dieser Zeit insgesamt bergauf ging. Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber Durchschnittsverdienenden ist zwischen 2010 und 2019 um ein Drittel gewachsen. Auch die Ungleichheit der Einkommen hat, gemessen am Gini-Koeffizienten, schon vor Beginn der Coronakrise einen neuen Höchststand erreicht. Zu diesem Ergebnis kommt der jüngste Verteilungsbericht des WSI.

Die Studie zeigt, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe einschränkt: Arme müssen deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens verzichten, sie haben weniger Geld zum Heizen, leben in kleineren Wohnungen. Sie sind weniger gesund, haben geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben insgesamt unzufriedener. Das nährt bei vielen Betroffenen Zweifel am politischen System: Lediglich rund zwei Drittel der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen“, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. „Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut ist also nicht nur notwendig, um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Das gilt umso mehr, da in Zeiten von hoher Inflation sozialer Abstieg auch Menschen droht, die sich während des vergangenen Jahrzehnts darum wenig Sorgen machen mussten. Es ist deshalb gut, dass das Bürgergeld jetzt schnell kommt. Es ist allerdings bedauerlich, dass sich der Vorschlag einer Vertrauenszeit, die das Vertrauen in staatliche Institutionen vermutlich gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte.“

Im Verteilungsbericht werten die WSI-Expertinnen Dorothee Spannagel und Aline Zucco die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus: erstens aus dem sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 16 000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden und das aktuell bis 2019 reicht. Zweitens aus der Lebenslagenuntersuchung der Hans-Böckler-Stiftung, für die 2020 und 2021 gut 4000 Menschen befragt wurden. Hinzu kommen Daten aus einer Repräsentativbefragung, die das IMK im August 2022 zur Inflationsbelastung durchgeführt hat. Als arm betrachten die Forscherinnen gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. 

Armut ist schon vor Corona deutlich gewachsen

„Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor“, konstatieren Spannagel und Zucco. Während der 2010er-Jahre – einem Zeitraum mit generell guter Wirtschaftsentwicklung und sinkender Arbeitslosigkeit, in dem auch die mittleren Einkommen spürbar zunahmen – stieg die Armutsquote laut SOEP mit einigen zwischenzeitlichen Schwankungen von 14,3 Prozent auf 16,8 Prozent. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, stieg im gleichen Zeitraum von 7,9 auf 11,1 Prozent. Deutlich größer wurde auch die Armutslücke – so bezeichnet man den Betrag, der einem durchschnittlichen armen Haushalt fehlt, um rechnerisch über die Armutsgrenze von 60 Prozent zu kommen. 2010 betrug der Rückstand aufs Jahr gerechnet 2968 Euro und sank inflationsbereinigt bis 2013 leicht, um dann sehr schnell auf 3912 Euro im Jahr 2019 anzuwachsen, dem letzten vor dem wirtschaftlichen Einbruch durch die Corona-Pandemie. „Hier zeigt sich, dass die armen Haushalte vom Aufschwung nicht profitieren konnten, sondern den Anschluss verlieren“, schreiben Spannagel und Zucco.

Ungleichheit der Einkommen auf Höchststand

Das spiegelt sich auch im sogenannten Gini-Koeffizienten wider, der ausweist, wie ungleich die Einkommen verteilt sind. Auch dieser Wert zeigte im Laufe der 2010er-Jahre einige Schwankungen. Er ging in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts moderat nach unten, erreichte dann aber 2019 mit 0,296 einen neuen Höchststand. 2010 hatte er noch bei 0,283 gelegen. Der vermeintlich kleine Anstieg ist durchaus bedeutsam. Selbst in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er-Jahre habe der Gini-Koeffizient nicht höher gelegen, betonen die Wissenschaftlerinnen.

Kein Geld für Heizung und Kleidung 

Auch in einem reichen Land wie der Bundesrepublik und in wirtschaftlich recht stabilen Zeiten ist Armut nicht selten mit alltäglichen Entbehrungen verbunden: Schon vor dem aktuellen Anstieg der Preise konnten es sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze nicht leisten, neue Kleidung zu kaufen. Immerhin 5 Prozent fehlten schon vor der Energiekrise die Mittel, um ihre Wohnung angemessen zu heizen, gut 3 Prozent verfügten nicht einmal über zwei Paar Straßenschuhe.

Schlechtere Gesundheit, größere Unzufriedenheit

Lebenszufriedenheit, Qualität der Gesundheit, Bildung und Qualifikationen sind unter der armen Bevölkerung niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt, ebenso das Vertrauen in staatliche Institutionen von der Bundesregierung bis zu Polizei und Gerichten. In der Böckler-Lebenslagenbefragung stimmten lediglich 59 Prozent der Armen der Einschätzung zu, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniere, nur 68 Prozent hielten sie für die beste Staatsform – 11 beziehungsweise 14 Prozentpunkte weniger als in der Gesamtbevölkerung.

Die Frage, ob Armut und Ungleichheit nach 2019 weiter zugenommen haben, lässt sich auf Basis des Berichts  nicht beantworten. Auch aktuellere Zahlen bis zum Jahr 2021 zeichnen kein eindeutiges Bild: So zeigen vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Daten einen leichten Rückgang der Armutsquote zwischen 2020 und 2021 an. Dagegen weist der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands für 2021 einen neuen Höchststand aus. Aktuell sei angesichts von enormen Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln, die Haushalte mit niedrigeren Einkommen stärker treffen, eine weitere wirtschaftliche Polarisierung sehr plausibel, erklären die WSI-Expertinnen. Das legen auch aktuelle Befunde aus der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung und der IMK-Inflationsumfrage nahe. Im August gaben beispielsweise mehr als zwei Drittel der Befragten mit Haushaltseinkommen unter 2000 Euro netto im Monat an, sich bei Ausgaben für Bekleidung oder Schuhe einschränken zu wollen – wohlgemerkt gegenüber einem schon vorher relativ geringen Niveau. Knapp 35 Prozent wollten sich sogar beim Kauf von Lebensmitteln einschränken. In der nächsthöheren Einkommensgruppe bis 3500 Euro Haushaltsnettoeinkommen lagen die Anteile mit gut 61 beziehungsweise knapp 32 Prozent auch nicht viel niedriger und auch darüber war die Neigung zu Einschränkungen erheblich. Der Spardruck reicht also deutlich in die Mittelschicht hinein.

Um Armut nachhaltig zu bekämpfen, sind laut Spannagel und Zucco – jenseits von Entlastungen in der akuten Krise – vor allem fünf Maßnahmen nötig:

Tarifbindung stärken

In tarifgebundenen Betrieben sind die Löhne höher, auch und gerade am unteren Ende der Einkommensverteilung. Daher profitierten Geringverdienende direkt von einer Bezahlung nach Tarif, so die WSI-Forscherinnen. Um die seit Jahren fortschreitende Erosion der Tarifbindung umzukehren, sollten Allgemeinverbindlicherklärungen erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden. Zudem sollte sich der Mindestlohn langfristig an relativen Größen orientieren, um immer Anschluss an die allgemeine Entwicklung zu halten. Die EU-Kommission etwa empfiehlt, den Mindestlohn bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns anzusetzen.

Anhebung der Grundsicherung

Egal, ob sie ALG II heißt oder Bürgergeld: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Expertinnen so weit angehoben werden, dass sie Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Ebenso wichtig sei eine verlässliche öffentliche Daseinsvorsorge, etwa ein gutes, bezahlbares Angebot bei öffentlichem Personennahverkehr und in der Energie- und Wasserversorgung, zudem flächendeckend gute Bildungseinrichtungen.

In bezahlbares Wohnen investieren

Bereits im Jahr 2018 gaben über zehn Prozent der Haushalte, die in Deutschlands Großstädten zur Miete lebten, mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Warmmiete aus. Fast die Hälfte musste dafür mindestens 30 Prozent aufwenden – ein Wert, der in Sozialforschung und Immobilienwirtschaft oft als Belastungsgrenze genannt wird. Aktuell dürfte die Zahl der Betroffenen noch deutlich höher liegen. Es bestehe ein großer Bedarf an der Förderung von bezahlbarem Wohnraum, so Spannagel und Zucco. Gleichzeitig sollten Wohnquartiere so gestaltet sein, dass sie gezielt eine heterogene Sozialstruktur fördern. „Auch das ist ein wichtiger Baustein, um einer weiteren sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken.“

Vereinbarkeit erleichtern

Wenn Familie und Beruf besser miteinander vereinbar sind, profitieren davon zwei Bevölkerungsgruppen ganz besonders: Familien mit nur einem Erwerbseinkommen sowie Alleinerziehende – beides Haushaltstypen, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sind. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sowie leichterer Zugang zu verlässlicher, idealerweise kostenfreier Kinderbetreuung sind hierzu wichtige Schritte. Auch der Ausbau der Partnermonate beim Elterngeld und mehr Teilzeitmöglichkeiten für Väter könnten die Vereinbarkeit verbessern.

Gute Arbeit fördern

Der Übergang von befristeten Stellen oder Minijobs in sozialver­sicherungspflichtige Beschäftigung müsse gezielt gefördert werden, fordern die WSI-Expertinnen. Die Weiterqualifizierung von Menschen an den Rändern des Arbeitsmarktes sei ein weiterer wichtiger Baustein. Auch in dieser Frage setze das geplante Bürgergeld-System der Bundesregierung die richtigen Schwerpunkte.

Dorothee Spannagel, Aline Zucco: Armut grenzt aus, WSI-Verteilungsbericht 2022, WSI-Report Nr. 79, Düsseldorf, November 2022

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