Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Arbeitnehmerfreizügigkeit: Wenig Schutz für Beschäftigte aus Osteuropa
Im Mai 2011 fallen für Arbeitnehmer aus acht EU-Mitgliedsländern Osteuropas die letzten Hürden für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Lohndumping und schlechtere Arbeitsbedingungen drohen, besonders für entsandte Beschäftigte mit Anstellung im Herkunftsland.
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt endet zum 30. April des kommenden Jahres die Übergangsfrist bei der so genannten Arbeitnehmerfreizügigkeit. Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Ungarn, Lettland, Litauen und Estland können dann ohne Einschränkungen in Deutschland arbeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Flut weiterer Migranten hierzulande dauerhaft eine Beschäftigung aufnehmen wird, so die Expertise von Frank Lorenz im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.* Hier sieht der Düsseldorfer Arbeits- und Europarechtler relativ hohe sprachliche, kulturelle und qualifikatorische Hürden.
Lorenz rechnet aber damit, dass die Entsendung nach Deutschland im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses im Herkunftsstaat zunehmen wird. Denn auch grenzüberschreitende Dienstleistungen werden ab Mai leichter möglich. So würde eine neue Niedriglohnkonkurrenz importiert. Insbesondere für osteuropäische Leiharbeitsunternehmen tut sich damit ein neues Geschäftsfeld auf.
Die Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen bedeutet:
=> Eine Arbeitserlaubnis ist nicht mehr erforderlich.
=> Werkvertragsabkommen zwischen Deutschland und den neuen Mitgliedsländern werden hinfällig.
=> Arbeitnehmer können in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden,
- um dort eine bestimmte Arbeit im Rahmen eines Vertrages zwischen dem Leistungsersteller und -empfänger zu erbringen - etwa als Monteure eine von ihrem Arbeitgeber an einen deutschen Kunden gelieferte Maschine aufstellen;
- um in einem anderen Konzernteil des Unternehmens zu arbeiten, mit dem der Arbeitsvertrag besteht;
- um in einem anderen Unternehmen im Rahmen eines Leiharbeitsverhältnisses zu arbeiten.
=> Die Vorschriften zur Bezahlung von entsandten Beschäftigten im Rahmen von Werkvertragsabkommen gelten nicht mehr. Das bedeutet für viele osteuropäische Arbeitnehmer in Deutschland weniger Schutzrechte als bisher: Aus den neuen Mitgliedstaaten entsandte Arbeitnehmer können völlig legal schlechter bezahlt werden als vergleichbare deutsche Beschäftigte, soweit keine andere Regelung dies verhindert.
Bislang hat Deutschland, im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Staaten, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsländern Osteuropas so weit wie möglich eingeschränkt. Trotzdem stellte die Bundesrepublik laut EU zwischen 2004 und 2006 rund 500.000 Arbeitsgenehmigungen aus. Damit lag sie gleichauf mit anderen großen Staaten. Nach Großbritannien beispielsweise, das keinerlei Übergangsregelungen einsetzte, gingen im selben Zeitraum 450.000 bis 600.000 Migranten aus den neuen EU-Ländern.
Zur Entsendung hingegen fehlen verlässliche Zahlen, kritisiert Arbeitsrechtler Lorenz. Groben Schätzungen der Bundesregierung zufolge wurden im Jahr 2007 rund 217.000 Arbeitnehmer nach Deutschland entsandt, ausschließlich im Rahmen von Werkvertragsabkommen in geschützten Branchen wie dem Baugewerbe. Bislang ist der Verleih von Arbeitnehmern aus Osteuropa nicht zulässig. Daher könnte besonders die zu erwartende Zunahme bei der Entsendung von Beschäftigten ohne begleitende Schutzmaßnahmen zu Lohndumping und schlechteren Arbeitsbedingungen führen.
Grundsätzlich richten sich die Arbeitsbedingungen entsandter Arbeitnehmer nach dem Recht des Staates, in dem der Leistungsanbieter seinen Sitz hat. Weil die dortigen Löhne, Urlaubsansprüche und Arbeitzeiten oft unter dem deutschen Niveau liegen, fürchtet der Jurist den Import ausländischer Dumpinglöhne und -arbeitsbedingungen. Einen Ausweg bietet das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das zumindest für Beschäftigte in der Baubranche, der Gebäudereinigung, der Alten- und Krankenpflege sowie sechs weiteren Branchen arbeitsrechtliche Mindeststandards vorsieht - egal, ob ihr Arbeitgeber im In- oder Ausland sitzt.
Lorenz empfiehlt daher eine Ausweitung des Entsendegesetzes, besonders auf die Leiharbeitsbranche. Als Ergänzung regt er die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für die Bereiche an, die keinen branchenspezifischen Mindestlohn haben.
Um die Einhaltung der Arbeitsbedingungen und Schutzregeln zu gewährleisten, sollten nach Deutschland entsandte Arbeitnehmer die entsprechenden Informationen in ihrer Landessprache erhalten, regt der Arbeitsrechtler an. Für die gerichtliche Durchsetzung von Lohnforderungen im Zielland hält er es für geboten, dass die hiesigen Gewerkschaften auch entsandten Beschäftigten Rechtsschutz gewähren können. Nach drei Monaten Beschäftigung in Deutschland sollten auch entsandte Arbeitnehmer in ihrem Betrieb das aktive Wahlrecht erhalten. Mit einer Klarstellung im Tarifvertragsgesetz wären auch Arbeitskämpfe für die Rechte entsandter Beschäftigter möglich.
Frank Lorenz: Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen Union - Rechtliche Rahmenbedingungen und politischer Handlungsbedarf (pdf), Friedrich-Ebert-Stiftung, September 2010