Quelle: HBS
Böckler ImpulsErwerbsarmut: Arbeit muss zum Leben reichen
Viele Menschen in Deutschland können nicht von ihrer Arbeit leben. Ein höherer Mindestlohn, eine stärkere Tarifbindung und die Eindämmung von Minijobs würden die Lage verbessern.
Arbeit schützt vor Armut. Das stimmt in den meisten, aber längst nicht in allen Fällen. Der Anteil der Menschen, die trotz regelmäßiger Arbeit in Armut leben, ist in den vergangenen 20 Jahren sogar gestiegen. Das liegt unter anderem an der gewachsenen Bedeutung des Niedriglohnsektors und einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Helfen würden die Eindämmung von Minijobs, die Erhöhung des Mindestlohns, die Stärkung von Tarifverträgen sowie eine bessere Unterstützung von Erwerbstätigen mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Carolin Linckh vom Bundesinstitut für Berufsbildung und Anita Tiefensee von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Die Expertinnen für Verteilungsfragen haben Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel ausgewertet.
Rund acht Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland waren im Jahr 2019 von Armut betroffen, sie waren also arm trotz Arbeit. Und unter allen Armen haben drei von zehn Menschen regelmäßig gearbeitet. Als arm gelten Personen, deren bedarfsgewichtetes Netto-Haushaltseinkommen geringer ist als 60 Prozent des Medianeinkommens. 2019 lag die Armutsgrenze für eine alleinlebende Person bei monatlich 1176 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2469 Euro. Im Zuge der Coronakrise und der damit verbundenen Zunahme von Kurzarbeit dürfte der Anteil derer, die trotz regelmäßiger Arbeit von Armut bedroht sind, noch gestiegen sein.
Dass viele Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können, hat mit dem Auseinanderdriften der Einkommen in den vergangenen Jahrzehnten zu tun. Während Menschen mit ohnehin schon hohen Einkommen zwischen 1995 und 2015 teils deutliche Lohnzuwächse verzeichnet hätten, sei der reale Bruttolohn von abhängig Beschäftigten in den unteren Einkommensklassen gesunken, schreiben die Forscherinnen. Erklären lasse sich dies durch das Aufkommen des Niedriglohnsektors. Dieser sei vor allem durch die Deregulierung des Arbeitsmarkts zu Beginn der 2000er-Jahre gefördert worden. Zwar sei in dieser Zeit die Beschäftigung insgesamt gestiegen, darunter waren jedoch viele schlecht bezahlte Jobs. Auch die gestiegene Bedeutung von Teilzeitarbeit und die höhere Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften erklärten einen Teil der Lohnungleichheit.
Insbesondere für junge Alleinlebende bis 35 Jahre sei das Armutsrisiko gestiegen, so die Wissenschaftlerinnen. Außerdem seien Haushalte, in denen nur eine Person erwerbstätig ist, heute deutlich häufiger armutsgefährdet als in den 1990er-Jahren. Weiterhin seien Menschen ohne Berufsabschluss heute eher von Armut betroffen. Frauen seien stärker gefährdet als Männer, weil sie häufiger in Teilzeit oder in Minijobs arbeiten. Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen unterhalb der Armutsschwelle war 2018 in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt, bei Erwerbstätigen oberhalb der Armutsschwelle waren es rund 27 Prozent.
Damit mehr Menschen von ihrer Arbeit leben können, empfehlen die Forscherinnen:
- Die Eindämmung geringfügiger Beschäftigung durch deutlich niedrigere Verdienstobergrenzen für Mini- und Midijobs. Wobei bei der aktuellen Arbeitsmarktlage unklar sei, inwieweit geringfügige Beschäftigung auf diese Weise tatsächlich in sozialversicherungspflichtige Jobs einmünden kann.
- Eine Erhöhung des Mindestlohns und Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen. Dies würde zu höheren Löhnen für mehr Erwerbstätige führen.
- Mehr Unterstützung für Erwerbstätige, die Angehörige pflegen oder Kinder betreuen.
- Weiterbildung für Menschen mit geringer Qualifikation. Dabei ist vor allem wichtig, die berufliche Weiterbildung unter Geringqualifizierten und unter Teilzeitbeschäftigten zu stärken.
Carolin Linckh, Anita Tiefensee: Armut trotz regelmäßiger Erwerbstätigkeit, WSI-Mitteilungen 04 / 2021