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Angriff auf den Mindestlohn Böckler Impuls

Europa: Angriff auf den Mindestlohn

Ausgabe 02/2025

Zwei Länder klagen gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie. Sollten sie Erfolg haben, wäre dies ein schwerer Rückschlag für die Idee eines sozialen Europas.

Als 24 EU-Staaten im Herbst 2022 die Annahme der Richtlinie „über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ beschlossen, stimmten zwei Länder dagegen und erhoben später Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH): Dänemark und Schweden. Denn sie fürchteten, durch die Richtlinie würde ihr spezielles sozialpartnerschaftliches System der Lohnverhandlungen infrage gestellt. Zwar haben die Regierungen beider Länder inzwischen eingeräumt, „dass die Europäische Mindestlohnrichtlinie keine praktischen Auswirkungen auf ihr nationales Lohnfindungssystem hat“, wie die Tarifexperten Thorsten Schulten vom WSI und Torsten Müller vom europäischen Gewerkschaftsinstitut erläutern. Ihre Klage haben Dänemark und Schweden jedoch nicht zurückgezogen. Inzwischen haben Kritiker und Befürworter ihre Standpunkte vor Gericht vorgetragen und der zuständige Generalanwalt – ein Amt, das es im deutschen Rechtssystem nicht gibt – hat für Europas höchste Richterinnen und Richter ein Rechtsgutachten verfasst, in dem er sich weitgehend den Klägern anschließt. Generell tendiert der EuGH in seinen Urteilen oft, aber beileibe nicht immer in Richtung Votum des Generalanwalts. Bis zu einer Entscheidung wird noch einige Zeit vergehen. 

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Im Kern geht es um Folgendes: Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union legt fest, dass die EU ihre Mitgliedstaaten in vielerlei Hinsicht unterstützen darf und soll, wenn es um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht. Ausdrücklich aus dem Zuständigkeitsbereich der EU ausgeklammert ist aber das „Arbeitsentgelt“. Die Kläger und der Generalanwalt argumentieren nun: Obwohl die Mindestlohnrichtlinie keinem Land eine konkrete Lohnuntergrenze vorschreibt, greift sie doch so weit in den Bereich des Arbeitsentgelts ein, dass sie gegen europäisches Recht verstößt.

Diese Position steht im Widerspruch zu „zahlreichen anderen juristischen Gutachten“, so Schulten und Müller. Zudem verkenne der Generalanwalt, „dass in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie zahlreiche Garantien enthalten sind, die die volle autonome Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der nationalen Tarifvertragsparteien sicherstellen“. Die Argumentation beruhe auf einer wenig trennscharfen und nicht überzeugenden Unterscheidung von EU-Regelungen mit direkter und indirekter Auswirkung auf die Arbeitsentgelte. Daher bezweifeln Schulten und Müller, dass das Gericht dem Antrag des Generalanwalts folgen wird.

Große Enttäuschung für die Beschäftigten

Zumal der Gerichtshof bislang meist in Richtung Integration statt Rückverlagerung auf nationale Ebene entschieden hat und sich auch der politischen Tragweite bewusst sein dürfte: „Eine vollständige Annullierung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie wäre eine große Enttäuschung für die Beschäftigten in Europa“, so die Forscher. Die „Idee des Sozialen Europas“ würde sich „einmal mehr als ­Illusion entpuppen“, was „das Bild der EU als einem primär an Wirtschaftsinteressen orientierten Elitenprojekt weiter fördern“ würde.

Aktuell ist die Richtlinie allerdings in Kraft und die EU-Staaten müssen an ihrer Umsetzung in nationales Recht arbeiten. Aber selbst wenn der EuGH die Richtlinie wider Erwarten kippen sollte, würde das nicht das Ende des Kampfs um angemessene Lohnuntergrenzen bedeuten, betonen die Forscher. „Alle mit der Richtlinie verfolgten Ziele zur Verwirklichung angemessener Mindestlöhne“ wären zudem weiterhin gültig. Die politische Selbstverpflichtung der EU-Länder, „den sozialen Zusammenhalt zu fördern, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu bekämpfen und unfairen Wettbewerb auf der Grundlage von Lohndumping und Niedriglöhnen zu verhindern“, bleibt bestehen. Zudem wird „die nationale Auseinandersetzung um angemessene Mindestlöhne und Tarifbindung weitergehen“ – wenn auch mit weniger Rückenwind aus Brüssel.

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