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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: Allgemeinverbindlichkeit erleichtern

Ausgabe 16/2018

Ein Gesetz von 2014 sollte es erleichtern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Doch damit es wirkt, muss nachgebessert werden.

Gibt es in einem Wirtschaftszweig wenigstens einen Tarifvertrag mit einer gewissen Strahlkraft, kann das Arbeitsministerium dessen Geltungsbereich auf alle Betriebe ausdehnen – wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zustimmen. So war es jahrzehntelang etwa im Einzelhandel. Doch seit den 1990er-Jahren kommen immer weniger Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) zustande. Wurden 1992 noch 205 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, waren es 2014 gerade noch 37. Deshalb sollte das „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ AVEs erleichtern. Allerdings hat die Reform ihre Wirkung verfehlt, urteilt WSI-Forscher Thorsten Schulten. Die Zahl der AVEs ist seither nicht merklich angestiegen, so der Tarifexperte. Wenn nicht nachgebessert werde oder die Arbeitgeberverbände ihre Blockadehaltung aufgäben, bleibe die jüngste Reform fruchtlos.

Verschiedene Faktoren versperren regelmäßig den Weg zur AVE:

  • Zunächst ist zu klären, ob ein Tarifvertrag genügend Gewicht hat. Zwar muss ein Tarifvertrag seit 2014 nicht mehr zwingend für die Hälfte aller Beschäftigten einer Branche gelten. Es reicht heute aus, wenn er „überwiegende Bedeutung erlangt“ hat, damit eine AVE infrage kommt. Außerdem können nun auch soziale und ökonomische Erwägungen eine AVE rechtfertigen. Aber die Ministerialbeamten neigen weiterhin zu einer sehr zurückhaltenden Auslegung der neuen Regeln, hat Schulten beobachtet. 
  • Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat im sogenannten Tarifausschuss ein faktisches Vetorecht – von dem er immer wieder Gebrauch macht, selbst wenn die betroffenen Branchenverbände oder Unternehmen für eine AVE wären. Daher wird oft erst gar kein AVE-Antrag gestellt. Dass sich die Interessenvertretung der Arbeitgeber in Deutschland so vehement gegen die Ausweitung von Tarifverträgen sträubt, sei gerade im internationalen Vergleich erstaunlich, schreibt Schulten. In anderen europäischen Ländern seien die organisierten Arbeitgeber oft die größten AVE-Befürworter. Schließlich verhindern allgemeingültige Tarife unfaire Konkurrenz durch Lohndumping. 
  • Zum Teil erklärt sich das Verhalten der hiesigen Arbeitgeberverbände Schulten zufolge durch eine deutsche Besonderheit: die so genannte OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, wobei OT für „ohne Tarif“ steht. Einige Verbände vertreten also sowohl tarifgebundene als auch Unternehmen, die sich nicht an Kollektivverträge halten. Diese Organisationslogik widerspricht dem Gedanken der AVE grundlegend, konstatiert der WSI-Forscher.

Daraus ergeben sich verschiedene Ansätze für eine Reform der Reform: Dass ein Tarifvertrag von „überwiegender Bedeutung“ sein muss, könnte gestrichen werden; stattdessen wäre es sinnvoller, präzise festzulegen, wann eine AVE „im öffentlichen Interesse“ ist. Anstatt den Arbeitgebern ein grundsätzliches Vetorecht einzuräumen, könnte der mit Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und des Arbeitsministeriums besetzte Tarifausschuss per Mehrheitsbeschluss über AVE-Anträge entscheiden. Zudem rät Schulten den Arbeitgeberverbänden, sich von der problematischen Konstruktion der OT-Mitgliedschaft zu verabschieden.

  • Wurden 1992 noch 205 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, waren es 2014 gerade noch 37. Zur Grafik

Thorsten Schulten: The role of extension in German collective bargaining (pdf), in: Susan Hayter, Jelle Visser (Hg.): Collective Agreements: Extending Labour Protection, Internationale Arbeitsorganisation 2018 

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