Quelle: HBS
Böckler ImpulsSozialstaat: Aktivierung heißt das Leitbild
"Fordern und Fördern" ist keine Erfindung des vergangenen Jahrzehnts. Menschen zu einer bestimmten Lebensführung zu bewegen, versuchte die Sozialpolitik schon immer. Neu ist das übergeordnete Ziel: mehr Arbeitskräfte für die Wirtschaft.
Ein Vergleich der heutigen Sozialpolitik mit der Expansionsphase des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt: Verhaltenslenkende und disziplinierende Elemente - "Fördern und Fordern" - spielten in der Sozialpolitik auch vor Hartz IV eine wichtige Rolle. Das schreibt die Politikwissenschaftlerin Margitta Mätzke von der Universität Göttingen. Beispielsweise sei etwa das Prinzip von Leistung und Gegenleistung ein Grundpfeiler der beitragsabhängig gestalteten Sozialversicherung. Allerdings hat sich das hinter der Sozialpolitik stehende Leitbild gewandelt: Das aktuelle Paradigma beruht laut Mätzke vor allem auf einem neuen arbeitsmarktpolitischen Ansatz. Hinzu kommen ein verändertes Familienbild und eine andere Sicht des Staates auf seine Bürger. Die jüngsten Sozialreformen lediglich als "Reflex auf Überlastungstendenzen" zu deuten, greife dagegen zu kurz.
Die Wissenschaftlerin beschreibt, auf welchen Feldern sich politische Strategien und soziale Normen gewandelt haben:
Ausweitung statt Verknappung des Arbeitsangebots. Die Arbeitslosenunterstützung war auch vor den Reformen der letzten Jahre eng an bestimmte Verhaltensmuster geknüpft, so Mätzke. Qualifizierte Berufstätigkeit in langfristigen Beschäftigungsverhältnissen - das so genannte Normalarbeitsverhältnis - war die Voraussetzung, um im Fall des Jobverlusts von diesem "traditionell relativ generös ausgestatteten Kernbereich der Sozialversicherung" in vollem Umfang zu profitieren. Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 schuf zudem zahlreiche Möglichkeiten zur Weiterbildung, jedoch ohne den "Verpflichtungscharakter" der heutigen aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Als Reaktion auf die aufkommende Massenarbeitslosigkeit setzte die Politik zunächst darauf, möglichst viele Menschen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten und ihnen Alternativen zur Erwerbstätigkeit anzubieten - Frühverrentung, lange Ausbildungsgänge oder das Leben als nicht-erwerbstätige Mutter.
Im neuen Jahrtausend kam die Kehrtwende: Inaktivität wurde zum "hauptsächlich zu bekämpfenden Übel", eine hohe Beschäftigungsquote zum wichtigsten Ziel der Politik, schreibt die Wissenschaftlerin. Seit 2004 sei das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit in der deutschen Arbeitslosenversicherung nicht mehr versichert. Seither werde die Pflicht zur Jobsuche stark betont und mit Sanktionsdrohungen untermauert. Das frühere Anliegen, für Erwerbslose Stellen zu finden, die ihrer Qualifikation angemessen waren, wich dem Bestreben, "gerade die Langzeitarbeitslosen praktisch um jeden Preis in Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln".
Doppelverdiener als Ideal. Hand in Hand mit der veränderten arbeitsmarktpolitischen Strategie geht nach Mätzkes Analyse der Wandel der Familienpolitik. Auch hier spielt das Ziel einer hohen Beschäftigungsquote heute die entscheidende Rolle: Erwerbstätigkeit wird zur Norm für alle Erwachsenen. Elterngeld und Ausbau der Kinderbetreuung sollen einerseits Berufstätigkeit für Mütter attraktiver machen und andererseits die Geburtenrate erhöhen - ein Anliegen, das als explizites politisches Ziel in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch einhellig abgelehnt wurde. Das heutige Idealbild ist der Doppelverdiener-Akademikerhaushalt anstelle der früheren Vorstellung von Facharbeiter und Hausfrau. Die Wissenschaftlerin verweist außerdem auf eine sozialpolitische Konsequenz des Zweiverdiener-Modells: Zwei Einkommen im Haushalt dienten auch der Kompensation "wachsender Lücken des sozialen Netzes". Fällt ein Einkommen durch längere Arbeitslosigkeit aus, so steht zunächst noch ein anderes zur Verfügung, bevor der Staat einspringen muss.
Neues Verhältnis zwischen Bürger und (Sozial-)Staat. In der Nachkriegszeit hatte der Sozialstaat eine Integrationsaufgabe. Sozialpolitik diente Mätzke zufolge nicht zuletzt dazu, der jungen Demokratie Legitimität in den Augen der Bürger zu verschaffen - und die Attraktivität des westdeutschen Gesellschaftsmodells im Vergleich zur DDR herauszustellen. Die Politik war bemüht, den Bürgern ein "Gefühl der Sicherheit" zu geben.
Getragen vom neuen Leitbild, dem "Aktivierungsparadigma", begann später die Privatisierung der Lebensrisiken: Krankenkassen übernahmen weniger Kosten, das Rentenniveau wurde bei gleichzeitiger Förderung privater Vorsorge gesenkt. Am deutlichsten trat der auffordernde statt beschützende Charakter des neuen Sozialstaats aber bei den Arbeitsmarktreformen hervor, so die Wissenschaftlerin.
Mätzkes Fazit: Der Staat greift heute nicht mehr oder weniger ins Leben des Einzelnen ein, sondern vor allem anders. Er hat dabei stets auch die "Rekrutierung aller Arbeitsfähigen" im Auge, nicht allein die sozialen Rechte der Bürger gegenüber dem Staat.
Margitta Mätzke: Individuelles Verhalten und sozialpolitische Anreize: Das fordernde Element im Wohlfahrtsstaat, in: WSI-Mitteilungen 1/2011