Koalitionsverhandlungen: Agenda für mehr Tarifbindung
Die künftige Bundesregierung sollte sich die gesetzliche Stärkung von Tarifautonomie und Tarifbindung auf die Fahne schreiben.
Mehr als 120 Forschende rufen in einem gemeinsamen Appell Union und SPD dazu auf, die Tarifautonomie zu stärken und im Koalitionsvertrag konkrete gesetzliche Regelungen für mehr Tarifbindung zu vereinbaren. Den Aufruf initiiert hat die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Stärkung der Tarifbindung“, die von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wird. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, die überwiegend Professuren in den Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften innehaben, argumentieren, dass eine hohe Tarifbindung Niedriglöhne, Armut und soziale Ungleichheit reduziert. Das habe nicht nur gesamtwirtschaftlich positive Auswirkungen, sondern stärke auch die Demokratie.
Gleichzeitig könnten die Tarifparteien in Tarifverträgen am besten die vielfältigen Besonderheiten unterschiedlicher Branchen berücksichtigen und „auf Augenhöhe flexibel auf wirtschaftliche und soziale Veränderungen reagieren, um Arbeitsplätze zu sichern“, heißt es in dem Aufruf. Die internationale Forschung zeige, „dass in Ländern mit koordinierten Lohnsystemen und hoher Tarifbindung eine hohe Einkommensgleichheit mit vergleichsweise hohen Beschäftigungsquoten und geringer Arbeitslosigkeit einhergeht“. Zudem könne bessere Bezahlung nach Tarif wichtige Anreize zur Fachkräftequalifizierung setzen. Eine Erhöhung der Tarifbindung sei damit „nicht nur sozial erwünscht, sondern auch ökonomisch machbar und sinnvoll“.
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In ihrem Aufruf erinnern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, dass die Bundesrepublik bis Mitte der 1990er-Jahre eine im internationalen Vergleich geringe Einkommensungleichheit auswies. Der wichtigste Grund hierfür sei eine hohe Tarifbindung gewesen. Rund 85 Prozent aller Beschäftigten wurden nach einem Tarifvertrag bezahlt, aktuell sind es nur noch 49 Prozent. Die Folgen seien gravierend: „Das Versprechen, mit harter Arbeit und einer guten Ausbildung zur Mittelschicht zu gehören, gilt vielfach nicht mehr.“ Der Niedriglohnsektor in Deutschland sei vergleichsweise groß. Die mittleren Einkommensgruppen schrumpften. Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen nach aktuellen Untersuchungen des WSI im Schnitt gut zehn Prozent weniger als vergleichbare Beschäftigte mit Tarifvertrag – obwohl sie pro Woche auch eine knappe Stunde länger arbeiten müssen. Das trage indirekt auch zu Fachkräfteengpässen bei: „In prekären Einkommensmilieus wird weniger in Bildung investiert, so dass Fachkräfte fehlen“, warnen die Fachleute.
Der vor gut zehn Jahren eingeführte gesetzliche Mindestlohn unterbinde zwar Dumpinglöhne am unteren Rand und habe dazu beigetragen, den Niedriglohnsektor etwas zu begrenzen. Als Lohnuntergrenze könne er aber nicht die Einkommensmitte sichern. Nur Tarifverträge mit ihren differenzierten Entgeltgruppen stellten sicher, dass unterschiedliche Qualifikationen, Arbeitsanforderungen und Funktionen angemessen entlohnt werden.
Die Tarifparteien sind nach Analyse der Forschenden in der Lage, für Kernbereiche der Wirtschaft gute Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Ihre Gestaltungsmacht reiche aber nicht mehr in die gewachsenen tariflosen Zonen des Arbeitsmarktes. Zur Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts sei politische Unterstützung notwendig. Aus der internationalen Arbeitsforschung leiten die Fachleute eine Reihe von Instrumenten ab, mit denen der Abwärtstrend bei der Tarifbindung gestoppt und die Tarifautonomie wieder gestärkt werden kann.
Zu diesen Instrumenten gehört eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung. Künftig sollte es wieder ausreichen, dass nur eine Tarifpartei den Antrag stellt. Dem Antrag sollte nur dann nicht stattgegeben werden, wenn sich der Tarifausschuss mehrheitlich dagegen ausspricht. Außerdem empfehlen die Forschenden die Einführung eines Bundestariftreuegesetzes. Danach dürfen bei der Vergabe von Aufträgen des Bundes nur noch Unternehmen berücksichtigt werden, die sich an Tarifverträge halten. Auch öffentliche Fördermittel, Wirtschaftshilfen und Subventionen ab einer bestimmten Höhe sollten an Tariftreue geknüpft werden. Um Tarifflucht zu erschweren, sollten die Tarifbindung bei Restrukturierungen nicht mehr verkürzt und die Nachwirkung von Tarifverträgen generell gestärkt werden. Darüber hinaus müssten vor allem die digitalen Zugangsrechte von Gewerkschaften zu den Beschäftigten ausgebaut und Maßnahmen zur Behinderung von Betriebsräten stärker bestraft werden. Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt könnten dadurch gestärkt werden, dass Mitgliedsbeiträge vollständig steuerlich abgesetzt und in Tarifverträgen effektive Mitgliedervorteilsregelungen vereinbart werden können. Die Arbeitgeberverbände sollten in ihrer Funktion als Tarifvertragspartei gestärkt werden, indem Mitgliedschaften ohne Tarifbindung aufgehoben werden.
Tarifautonomie schafft faire Arbeit, fördert soziale Gerechtigkeit und sichert demokratische Teilhabe – Für eine Stärkung der Tarifbindung (pdf)