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HBS Böckler Impuls

Verteilung: Abstiegsängste in der Mitte

Ausgabe 19/2009

Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust nimmt seit den 1990er-Jahren zu. Besonders steigt die Verunsicherung der Mittelschicht.

Die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse hat die Lebensbedingungen vieler Beschäftigter objektiv verschlechtert. Zudem haben die Veränderungen der vergangenen 20 Jahre aber auch psychologische Wirkungen entfaltet, die über den direkt betroffenen Personenkreis hinausgehen: Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist in die Mittelschicht vorgedrungen. Das belegen die Soziologen Holger Lengfeld und Jochen Hirschle mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer seit Anfang der 1980er-Jahre jährlich wiederholten, repräsentativen Haushaltsbefragung.

"Über Jahrzehnte hinweg galt die deutsche Mittelschicht als relativ gut geschützt vor den Risiken schwankender Konjunkturen, vor dem Wandel der Erwerbsstruktur von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, vor Langzeitarbeitslosigkeit oder vor Bildungsdefiziten", schreiben die Wissenschaftler. Erst in der jüngsten Vergangenheit ist die These von der Erosion der Mittelschicht, ihrer zunehmenden Verunsicherung und wachsenden Zukunftsängste aufgekommen. Lengfeld und Hirschle haben nach empirischen Anhaltspunkten dafür gesucht. Da die "materielle Grundlage des Wohlstands einer Person in der Regel die ausgeübte Erwerbstätigkeit ist", wählten sie als Indikator die Antworten auf die im SOEP jährlich gestellte Frage: Machen Sie sich Sorgen um die Sicherheit Ihres Arbeitsplatzes?

Dabei zeigt sich zunächst ein "Fahrstuhleffekt": Unabhängig von Berufsgruppen und dem damit jeweils verbundenen sozialen Status nehmen die Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft seit Beginn der 1990er-Jahre zu. Ein überproportionaler Anstieg ist jedoch in der "mittleren Mittelschicht" festzustellen. Die Studie definiert diese Gruppe als "gehobene Routineangestellte", etwa Bankkaufleute mit gewissen eigenen Entscheidungsbefugnissen. Bis Mitte der 1990er-Jahre bewegten sich die Zukunftsängste der gehobenen Routineangestellten noch auf dem gleichen Niveau wie die der mittleren Führungskräfte und Akademiker, der "oberen Mittelklasse". Inzwischen bangen sie deutlich häufiger um ihren den Job und nähern sich den Werten der Arbeiter an. Letztere geben über den gesamten Beobachtungszeitraum am häufigsten an, sich um den Arbeitsplatz zu sorgen.

Woher kommt die Zukunftsangst in der Mitte? Die einfachste Interpretation wäre: Die tatsächlichen Lebens- und Arbeitsumstände von Angehörigen der gehobenen Routineberufe haben sich drastisch verändert - beispielsweise durch häufigere Erfahrungen mit befristeten Jobs oder Arbeitslosigkeit. Doch die Wissenschaftler kommen zu einem anderen Ergebnis. Selbst wenn man Faktoren wie frühere Arbeitslosigkeit, regionale Erwerbslosenquoten, Befristungen oder branchenspezifische Entwicklungen in die Analyse einbezieht, die die "mittlere Mitte" besonders betreffen, beispielsweise häufige Umstrukturierungen im Finanz- und Gesundheitssektor: Die genannten Punkte liefern keine hinreichende Erklärung für die gewachsene Verunsicherung in der gesellschaftlichen Mitte.

Lengfeld und Hirschle vermuten stattdessen, dass die schlechtere Grundstimmung in den niedriger angesiedelten sozialen Gruppen quasi ins nächst höhere Segment überschwappt: Viele, die sich selbst zehn Jahre zuvor noch auf der sicheren Seite glaubten, beobachten "Prekarisierungstendenzen in der unteren Mittelschicht und den Unterschichten" - und fürchten, dass es ihnen bald genauso gehen könnte.  

  • Die „mittlere Mittelschicht“ ist häufig im Gesundheitswesen, bei Banken oder Bildungssektor beschäftigt. Zur Grafik
  • Die Sorge um den Arbeitsplatz nimmt seit den 1990er-Jahren in allen sozialen Schichten zu. Besonders ausgeprägt ist der Anstieg jedoch in der „mittleren Mittelschicht“. Zur Grafik

Holger Lengfeld, Jochen Hirschle: Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984-2007, in: Zeitschrift für Soziologie 5/2009

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