Quelle: HBS
Böckler ImpulsRechtsgutachten: Tarifverträge für Soloselbstständige
Vom Auftraggeber abhängige Soloselbstständige haben eine ähnlich schwache Verhandlungsposition wie Beschäftigte gegenüber dem Arbeitgeber. Sie könnten sich zusammenschließen.
Kartelle hebeln den Wettbewerb aus und sind in der Marktwirtschaft entsprechend verpönt. Allerdings gibt es eine wichtige Ausnahme: Auf Arbeitsmärkten gelten andere Regeln als auf Gütermärkten. Um einen ruinösen Unterbietungswettbewerb zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die sich gegenüber dem Arbeitgeber meist in der schwächeren Verhandlungsposition befinden, zu verhindern, dürfen sie sich in Gewerkschaften zusammenschließen und gemeinsame Tarifverträge aushandeln. Die sogenannte Koalitionsfreiheit ist im Grundgesetz festgeschrieben. Aber was ist mit kleinen Selbstständigen, etwa Plattformarbeiterinnen und -arbeitern, die sich faktisch in der gleichen Situation befinden wie Beschäftigte? Dieser Frage, die in Zeiten von Crowdwork und Gig-Economy zunehmend wichtiger wird, ist der Juraprofessor Achim Seifert von der Universität Jena in einem Gutachten im Auftrag des HSI nachgegangen. Sein Ergebnis: Soweit es um Kollektivverträge zum Schutz von wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen geht, ist eine Ausnahme vom europäischen Kartellverbot gerechtfertigt.
Grundsätzlich gelten Selbstständige kartellrechtlich als Unternehmen, denen jegliche Vereinbarungen verboten sind, die eine „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ darstellen könnten. So steht es in Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Mit Blick auf diesen Artikel sind nach Seiferts Analyse allenfalls kollektive „Regelungen über das Rating von Plattformarbeitern oder auch über Konfliktlösungsmechanismen wie Mediations- oder Ombudsverfahren“ gestattet, weil sie als wettbewerbsneutral angesehen werden können.
Allerdings sei Artikel 101 einschränkend auszulegen, wenn es um die Rechte wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger geht, so der Jurist. Denn der AEUV enthalte auch sozialpolitische Zielbestimmungen – etwa die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und einen angemessenen sozialen Schutz –, die hier zu berücksichtigen seien. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist in verschiedenen Fällen zu der Auffassung gelangt, dass der Bereich der Sozialpolitik als „kartellrechtlicher Ausnahmebereich“ anzusehen sei. Zumindest für Scheinselbstständige, die klar Arbeitnehmeraufgaben erfüllen – in einem verhandelten Fall ging es um Aushilfsmusiker – gilt das Kartellverbot demnach nicht.
Dies lässt sich nach der bisherigen Linie des EuGH zwar nicht auf alle wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen übertragen. Dennoch kann man argumentieren, so Seifert, dass hier eine vergleichbare Schutzbedürftigkeit vorliegt. Zudem lasse sich hier der „Gedanke eines Umgehungsschutzes“ anführen: Wo ein „Sozialdumping durch Selbstständige“ droht, sei es geboten, den Geltungsbereich der sozialpolitischen Bestimmungen auszuweiten – gerade um „Wettbewerbsverzerrungen“ zu verhindern. Auch das Recht auf Kollektivverhandlungen, das in der europäischen Grundrechte-Charta verankert ist, dürfte nach Seiferts Einschätzung auf abhängige Selbstständige anwendbar sein.
Unter dem Strich erscheint das Recht auf europäischer Ebene aber bislang wenig konsistent. Der „Schutz wirtschaftlich abhängiger Selbstständiger im Unionsrecht ist bislang nur bruchstückhaft ausgeformt“, schreibt Seifert. Die Nationalstaaten sind da zum Teil weiter. So fallen in Deutschland bestimmte „arbeitnehmerähnliche“ Selbstständige nicht unter die Regeln des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. In anderen EU-Ländern – Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Spanien – gibt es ähnliche Bestimmungen, aus denen ein Recht auf Kollektivverhandlungen von wirtschaftlich abhängigen Selbstständigen abzuleiten ist. Dort seien „bereits einige wenige Kollektivverträge zum Schutz von Plattformbeschäftigten abgeschlossen worden, die teilweise auch Mindestvergütungen vorsehen“, stellt Seifert fest. In Deutschland ist unter Beteiligung der IG Metall und mehrerer Plattformen ein Verhaltenskodex zu Crowdwork entwickelt worden, der Empfehlungen enthält. Von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, der in allen nationalen Rechten der Mitgliedstaaten anerkannt ist, könne dennoch keine Rede sein.
Angesichts der Unsicherheit begrüßt der Jurist, dass die EU-Kommission am 9. Dezember 2021 „Leitlinien über die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen“ vorgeschlagen hat. Entscheidend sei, dass die geplante Neuregelung später nicht durch den EuGH gekippt oder durch eine Einschränkung des Anwendungsbereichs, etwa auf Scheinselbstständige im engeren Sinn, beschränkt wird.
Achim Seifert: Kollektivverträge für wirtschaftlich abhängige Selbständige und unionsrechtliches Kartellverbot, HSI-Schriftenreihe Band 42, März 2022