Quelle: HBS
Auf einen Blick: Der Sozialstaat in Deutschland
Reformen wie das Bürgergeld, die Rente und die Kindergrundsicherung sind oft Thema von Kürzungsdiskussionen. Unser Forschungsüberblick räumt mit Mythen auf und beleuchtet die Herausforderungen der Zukunft.
ALLGEMEINE sOZIALSTAATDEBATTE
20 Jahre nach Schröders „Agenda 2010“ bleibt die Reform umstritten. Das Hauptargument der Befürworter*innen, dass „jede Arbeit besser als keine Arbeit“ sei, wird durch die Realität der dysfunktionalen Arbeitsmarktsegmente, wie Leiharbeit und Minijobs, widerlegt.
Diese bieten oft keine Perspektive auf bessere Vollzeitjobs und fördern soziale Unsicherheit und Altersarmut. Obwohl Fachkräftemangel herrscht, bleibt der Niedriglohnsektor bestehen. Positiv ist die stärkere Fokussierung auf Qualifizierung von Arbeitslosen im neuen Bürgergeld im Gegensatz zur schnellen Vermittlung in „irgendeinen Job“ bei Hartz IV.
Ein gut funktionierender Sozialstaat bietet nicht nur soziale Sicherheit, sondern trägt auch zur wirtschaftlichen Stabilität und zum sozialen Zusammenhalt bei. Im Vergleich zu den USA, wo das soziale Sicherheitsnetz oft schwächer und fragmentierter ist, bietet Deutschland umfassendere Leistungen wie Krankenversicherung, Renten und Arbeitslosengeld. Dies führt zu einer geringeren Armutsrate und stabileren sozialen Verhältnissen. Der Sozialstaat ist entscheidend, um soziale Ungleichheiten zu bekämpfen und die Lebensqualität der Bürger zu erhöhen.
Immer wieder wird in Debatten für den Abbau des Sozialstaats plädiert, da er zu aufgeblasen sein soll. Tatsächlich sind die Staats- und Sozialausgaben in Deutschland jedoch weder im internationalen noch im historischen Vergleich besonders hoch oder stark gewachsen.
In der Debatte zur Sozialpolitik kursieren oft vereinfachte und falsche Behauptungen. Die WSI Blogreihe „Mythen der Sozialpolitik“ prüft solche Aussagen sowie politische Vorschläge wissenschaftlich und evidenzbasiert. Es zeigt sich, dass viele Argumente zu kurz greifen und nur Teilaspekte der Realität darstellen. Diese Vereinfachungen können zu Spannungen zwischen verletzlichen Gruppen führen, das Vertrauen in staatliche Institutionen untergraben und Ressentiments in der Gesellschaft schüren.
Bürgergeld und Grundsicherung
Aus Hartz IV wird das Bürgergeld, doch reichen die Reformen aus für eine Grundsicherung, die ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird?
Mit dem Bürgergeld und der Kindergrundsicherung habe die Bundesregierung notwendige, wenn auch kleine Schritte in die richtige Richtung unternommen: Als Nachfolger von Hartz IV soll das Bürgergeld die soziale Absicherung und Qualifizierung von Arbeitslosen verbessern. Die größte Neuerung ist, dass es keinen Vermittlungsvorrang mehr gibt. Qualifizierung und Teilhabe rücken in den Mittelpunkt. Jedoch reicht die Anhebung der Regelbedarfe um durchschnittlich zwölf Prozent nicht aus, um die gesellschaftliche Teilhabe finanziell abzusichern. „Eine Erhöhung, die lediglich die Inflation ausgleicht – wenn überhaupt –, greift viel zu kurz“, schreiben Blank, Schäfer und Spannagel. Auch die Berechnung der Regelbedarfe hätte transparenter und nachvollziehbarer gestaltet werden können.
Die Einführung des Bürgergeldes hat eine intensive Debatte über die Lohndifferenz in Deutschland angestoßen. Nachberechnungen des WSI zeigt: „Wer arbeitet, hat immer mehr Geld!“. Die Löhne in Deutschland gestiegen, jedoch nicht in dem Maße, dass sie die steigenden Lebenshaltungskosten ausgleichen können. Viele Menschen finden sich trotz Vollzeitarbeit oft in der Situation wieder, auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen zu sein. Dies führt zu einem paradoxen Zustand, in dem hart arbeitende Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Existenz zu sichern. Die Herausforderung besteht also darin, die soziale Absicherung zu verbessern und gleichzeitig für gerechte Löhne zu sorgen. Nur so kann ein effektives System entstehen, das die Abhängigkeit von Sozialleistungen reduziert und die Lebensqualität der Arbeitnehmer steigert.
Weitere Diskussion über Sparmaßnahmen beim Bürgergeld betreffen hauptsächlich verstärkte Sanktionen gegen Totalverweigerer*innen. Dies könnte bis zu einer vollständigen Kürzung des Bürgergelds für bis zu zwei Monate führen. Die Annahme, dass höhere Sanktionen Arbeitsanreize schaffen, sei populistisch und durch keine empirischen Belege gestützt. Langfristig sinken dadurch die Jobchancen und die Qualität der Beschäftigung.
Kinder- und Familienpolitik
Die von der Bundesregierung beschlossene Kindergrundsicherung hätte trotz erheblicher Schwächen positive Effekte auf benachteiligte Kinder und Familien sowie Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt gehabt.
Wenn rund 1,5 Millionen Kinder mehr als bisher ihnen zustehende Leistungen auch wirklich erhalten und sich die finanzielle Lage ihrer Familien verbessert, sinkt die Kinderarmut relativ rasch um knapp zwei Prozentpunkte. Das entspricht rund 282 000 Kindern, die nicht mehr unterhalb der Armutsgrenze leben müssen.
Das derzeitige Existenzminimum orientiert sich an Einkommen und Verbrauch der 20 Prozent ärmsten Haushalte. Wir gehen nicht nur davon aus, dass damit die tatsächlichen Bedarfe systematisch unterschätzt werden. Mit der Orientierung am ärmsten Fünftel unserer Gesellschaft reproduzieren wir Armut immer weiter. Wir haben dazu ein Alternativkonzept erarbeiten lassen, nach dem der Bedarf bei Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen nicht mehr als 25 Prozent und bei sonstigen Bedürfnissen nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen darf. Je nach Alter liegt der Satz in unserem Konzept zwischen 30 und 190 Euro höher als derzeit geplant.
Zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr fehlen nicht nur zahlreiche Betreuungsplätze. Auch ein großer Anteil der erwerbstätigen oder arbeitsuchenden Eltern, die offiziell für ihr Kind einen Platz in der Kita oder bei Tageseltern haben, können nicht auf eine zuverlässige Betreuung vertrauen.
Viele Eltern stellt das vor große Probleme im Alltag: 67 Prozent der betroffenen Befragten sagen, dass sie die Ausfälle bei der Kinderbetreuung als belastend empfinden. 30 Prozent bewerten die Situation sogar als „sehr belastend“. Knapp die Hälfte der betroffenen Mütter und Väter hat während der Schließung oder Kürzung der Betreuungszeit Urlaub genommen oder Überstunden abgebaut, um die Betreuungslücke auszugleichen. Knapp 30 Prozent mussten zeitweilig ihre Arbeitszeit reduzieren.
Der Grund: Unzureichenden Rahmenbedingungen und die mangelnde Finanzierung in Kitas führt zu einer Überlastung der Erzieher*innen und unzureichenden Vertretungsmöglichkeiten bei Krankheitsfällen.
Rente und Altersvorsorge
Erstmals seit über 20 Jahren soll die gesetzliche Rente umfassend gestärkt werden. Die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent bis 2040 im Rahmen des Rentenpakets II ist ein richtiger, wenn auch kleiner Schritt zu einer zukunftsfähigen Alterssicherung. Davon profitieren nicht nur aktuelle Rentner, sondern auch jüngere Beitragszahler.
Die WSI-Expertise fasst einige zentrale Punkte zur Alterssicherung zusammen: Trotz Senkungen des Rentenniveaus ist das System komplexer und nicht günstiger geworden. Private Vorsorge, wie die Riester-Rente, sollte die Lücke füllen, ist aber gerade für Geringverdiener oft unerschwinglich. Die Grundrente, die 2021 eingeführt wurde, unterstützt dabei Menschen mit niedrigen Renten zusätzlich.
Das Rentenpaket II soll nicht nur das Rentenniveau stabilisieren, sondern auch ein Generationenkapital aufbauen. Das Generationenkapital ist ein Kapitalstock, der aus Krediten finanziert und dessen Ertrag der Rentenversicherung zugeführt werden soll. „Es zielt zwar weiter in Richtung Kapitalmarktfundierung mit all ihren Risiken. Es bricht aber wenigstens nicht mit dem Prinzip einer kollektiven Sicherung als effizienteres System“, sagt WSI-Experte für Altersversicherung Florian Blank.
Die Zahlungen des Bundes an die Rentenversicherung steigen zwar in Euro-Beträgen, bleiben aber stabil, wenn man sie im Verhältnis zu den Gesamtausgaben oder dem Bundeshaushalt sieht. Sie dienen nicht dem Ausgleich von Defiziten, sondern folgen festen Regeln, etwa zur Lohnentwicklung. Sie finanzieren gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wie Rentenbeiträge für Kindererziehungszeiten oder tragen zur Senkung des Beitragssatzes bei.
Für Beschäftigte, die nach 1964 geboren sind, liegt das gesetzliche Renteneintrittsalter derzeit bei 67 Jahren. Angesichts des demografischen Wandels wird sogar über die Rente ab 69 Jahren diskutiert. „Es gibt keine politische Notwendigkeit, das Rentenalter pauschal anzuheben. Nicht auf 69 und nicht auf 70 Jahre“, sagt Florian Blank.
Über 20 Prozent der Beschäftigten glauben, ihren Job nicht bis zum Renteneintritt durchzuhalten, knapp 7 Prozent sind überzeugt, es auf keinen Fall zu schaffen. Besonders betroffen sind Arbeiterinnen und Arbeiter (38 Prozent) sowie Personen mit stark belastenden Jobs, von denen 43 bis 59 Prozent zweifeln, bis zum Rentenalter durchhalten zu können.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass Forderungen nach einer weiteren Anhebung des Rentenalters offensichtlich an der Realität vieler Beschäftigter vorbeigehen. Solche Maßnahmen würden Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt verschärfen – oft zulasten von ohnehin bei ihrer Arbeit stark belasteten Personen. Notwendig sei zunächst, gute Arbeit für alle Beschäftigten zu ermöglichen.
Investitionen und gesellschaftliche Herausforderungen
Freiwilliges soziales Engagement trägt oft dazu bei, die Folgen staatlicher Sparpolitik auszubügeln. Zum Teil verschwimmen die Grenzen zwischen freiwilligem Engagement und Erwerbstätigkeit. Vor diesem Hintergrund bestehe die Gefahr, dass Erwerbsarbeit in der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge durch freiwilliges Engagement ersetzt wird.
Die Mehrheit der Deutschen ist unzufrieden mit der öffentlichen Infrastruktur. Im Bundesdurchschnitt fordern gut zwei Drittel höhere staatliche Investitionen. Am geringsten ist die Zufriedenheit in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Umweltschutz.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung hat zusammen mit dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) den notwendigen Investitionsbedarf für Deutschland neu bewertet. Laut der neuen Analyse ist der Investitionsbedarf in den letzten fünf Jahren deutlich angestiegen: Um Deutschland zukunftssicher zu machen, sind jetzt etwa 600 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Investitionen nötig, verteilt über die nächsten zehn Jahre.
Die wachsende Armut in Deutschland ist ein alarmierendes Zeichen unserer Zeit. Seit 2010 hat die Einkommensungleichheit zugenommen, und strahlt bis in die Mittelschicht. Bereits vor der Inflationswelle 2021 hatten über 40 % der Armen und mehr als 20 % der Menschen mit prekären Einkommen keine finanziellen Rücklagen, um kurzfristige Notlagen zu überbrücken, zeigt der aktuelle Verteilungsbericht des WSI.
Die Autoren Dorothee Spannagel und Jan Brülle betonen, dass Menschen mit geringen Einkommen häufiger mit dem politischen System hadern und sich von der Demokratie entfremden. Sie schlagen mehrere Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut vor:
- Erhöhung der sozialen Grundsicherung
- Qualifizierungsmaßnahmen und Vereinbarkeit von Familie und Beruf
- Stärkung der Sozialversicherungssysteme
- Verbesserung der sozialen Infrastruktur
Zur Finanzierung dieser Maßnahmen schlagen die Autoren eine Reform der Schuldenbremse und eine wirksamere Besteuerung sehr großer Vermögen vor. Diese Schritte sind notwendig, um die Armut zu reduzieren und die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.