
Quelle: HBS
Auf einen Blick: Arbeitszeit: Flexibilität, Gestaltung, Erfassung
In der Debatte um die Arbeitszeitgestaltung fließen viele Faktoren ein: Wie wollen wir wirtschaften, wie wollen wir arbeiten und wie wollen wir die Arbeit mit dem Leben vereinbaren. Es geht um Tarifverträge, den richtigen rechtlichen Rahmen, Arbeitszeiterfassung, Mitbestimmungsrechte und die Vier-Tage-Woche.
[06.05.2025]
Es war eine intensive Debatte in der Vergangenheit – und es ist eine nicht minder intensive Auseinandersetzung der Gegenwart: Wie wollen wir wirtschaften, arbeiten und leben? Um diese Frage geht es bei der Arbeitszeit-Debatte.
Auch die neue Bundesregierung von Union und SPD will mehr Möglichkeiten für sehr lange Arbeitstage(Öffnet in einem neuen Fenster) schaffen, indem die Höchstarbeitszeit nicht mehr pro Tag, sondern pro Woche geregelt werden soll. Außerdem sollen Überstunden finanziell attraktiver gemacht werden.
In diesem Forschungsüberblick finden Sie aktuelle Studien zu den Konsequenzen einer Flexibilisierung und viele Vorschläge für eine moderne und gerechte Gestaltung von von Arbeitszeiten.
Deregulierung von Arbeitszeiten
Die Arbeitszeiten in Deutschland sind hoch flexibel. Das zeigt sich nicht nur in einschlägigen Statistiken zu Abend-, Nacht-, Schicht und Wochenendarbeit, sondern auch beim Blick ins Arbeitszeitgesetz, das etwa die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden erlaubt.
Bisher gilt:
Im Februar 2024 hat die Unionsfraktion im Bundestag die Regierung aufgefordert, das Arbeitszeitgesetz zu reformieren.(Öffnet in einem neuen Fenster) Die Grenze für die tägliche Höchstarbeitszeit von – in der Regel – acht Stunden soll fallen und stattdessen nur noch ein wöchentliches Limit von maximal 48 Stunden gelten, wie sie in der EU-Arbeitszeitrichtlinie festgelegt ist. Das soll für mehr Zeitflexibilität sorgen und ist aus Sicht der Union nicht nur im Interesse von Arbeitgebern, sondern auch von Beschäftigten.
Amélie Sutterer-Kipping vom HSI hat als Sachverständige eine Stellungnahme für den zuständigen Bundestagsausschuss(Öffnet in einem neuen Fenster) verfasst. Ihr Fazit: Die bestehenden Spielräume „sind ausreichend, um weitgehende und nötige Flexibilität für beide Seiten des Arbeitsverhältnisses zu gewährleisten“. Weiter verweist die Juristin darauf, dass eine weitere Entgrenzung von Arbeitszeiten Risiken für Gesundheit, Vereinbarkeit und Gleichstellung im Berufsleben bringt. Arbeitswissenschaftlich gesichert ist: Lange Arbeitstage wirken sich negativ auf die Gesundheit aus, nach der achten Stunde steigt das Risiko für Arbeitsunfälle steil an. Und die wenigsten Vollzeitbeschäftigten wünschen sich einen späteren Feierabend - das ergab eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2023.
Nun tauchen die Vorschläge, die Arbeitszeiten zu deregulieren, erneut im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung auf. Nur: Sehr lange Arbeitstage und finanziell attraktivere Überstunden sind als Maßnahmen ungeeignet, das Wirtschaftswachstum langfristig zu stärken und für mehr Beschäftigung zu sorgen, und zwar aus zwei zentralen Gründen.
1. Eine Deregulierung der täglichen Arbeitszeit kann bestehende gesundheitliche Probleme in der Erwerbsbevölkerung verschärfen.
2. Es besteht die Gefahr, dass eine Ausweitung der Erwerbsarbeitszeit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter verschlechtert und dadurch insbesondere die Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben einschränkt.
Die gesundheitlichen Folgen von sehr langen täglichen Erwerbsarbeitszeiten sind hinlänglich bekannt, betonen Dr. Yvonne Lott und Dr. Amélie Sutterer-Kipping. Lange Erwerbsarbeitszeiten führen zu mehr krankheitsbedingten Ausfällen.(Öffnet in einem neuen Fenster) Sie verringern die Zeit, die notwendig ist, um sich ausreichend von der Arbeit zu regenerieren. Zu den daraus folgenden Gesundheitsrisiken gehören mehr psychosomatische Beschwerden, Herz- und Kreislauferkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schlafstörungen.
Zudem erhöht sich durch Übermüdung infolge überlanger Arbeitszeiten das Risiko von Arbeitsunfällen. So steigt die Unfallhäufigkeit nach der achten Arbeitsstunde exponentiell an, so dass Arbeitszeiten über zehn Stunden täglich „als hochriskant eingestuft werden müssen“, schreibt Expertin Sutterer-Kipping. Die Expertin betont auch, dass die bestehenden Regelungen im Arbeitszeitgesetz bereits erhebliche Spielräume für Flexibilität böten.
Fragmentierte Arbeitszeiten erhöhen Stress: Eine neuere Studie von Arbeitszeitforscherin Lott, zeigt einen weiteren Grund, warum zeitliche Obergrenzen für jeden Arbeitstag wichtig sind. Ohne sie können Arbeitszeiten stärker „fragmentiert“ werden. Zerstückelte Arbeitstage, bei denen sich beispielsweise Erwerbs- und Sorgearbeit mehrfach abwechseln, mögen kurzfristig die Bewältigung des Alltags erleichtern.
Zufrieden mit ihrer Work-Life-Balance sind vor allem weibliche Beschäftigte, die ihre tägliche Erwerbsarbeit länger für private Zwecke unterbrechen, aber nicht, zeigt die Untersuchung, die Lott zusammen mit einem Experten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) angestellt hat. Vielmehr prägen Zeitdruck und Stress „fragmentierte“ Arbeitstage besonders stark. Für die Gesundheit wichtige Ruhezeiten geraten unter Druck, die wöchentlichen Arbeitszeiten werden länger.
Nachteile für die Erwerbstätigkeit von Frauen: Die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag ebenso wie ähnliche politische Forderungen nach längeren Erwerbsarbeitszeiten ignorieren die Existenz unbezahlter Arbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird, analysiert Forscherin Yvonne Lott. Betreuungskonflikte etwa würden durch weiter entgrenzte Arbeitszeiten nicht gelöst, sondern verschärft. Ein solches Modell begünstige tradierte Rollenverteilungen und stehe der Gleichstellung von Mann und Frau entgegen, warnt die Expertin.
Nicht zuletzt werde es für Frauen, die Teilzeit arbeiten, schwerer, ihre Arbeitszeit auszuweiten, wenn beispielsweise der vollzeitbeschäftigte Partner noch länger im Erwerbsjob arbeitet und noch weniger Zeit für Sorgearbeit habe. Dabei wäre ein größeres Erwerbsvolumen von Frauen ein wichtiger Faktor, um das Arbeitskräftepotenzial zu vergrößern.
Außerdem sind die Maßnahmen auch geeignet, die Demokratie weiter zu schwächen, analysieren Lott und weitere Forschende. Umfragen des WSI belegen, dass viele Beschäftigte bereits heute zu wenig Zeit für politisches oder gesellschaftliches Engagement haben. Nur ein gutes Drittel der Erwerbstätigen ist im gewünschten Maß aktiv, unter erwerbstätigen Müttern sogar lediglich 20 Prozent. Eine funktionierende Demokratie brauche aber Demokrat*innen, die Zeit für politische und zivilgesellschaftliche Beteiligung aufbringen.
Welche fatalen Auswirkungen eine Aufweichung der Arbeitszeitgrenzen hätte, lässt sich laut Arbeitsmarktexperte Dr. Hartmut (Öffnet in einem neuen Fenster)Seifert in den Wirtschaftsbereichen ablesen, in denen die Personalsituation extrem angespannt ist, beispielsweise in der Alten- und Krankenpflege. Hier kämen durch oft lange und ungünstig liegende Arbeitszeiten bereits jetzt zwei wesentliche Belastungsfaktoren zusammen.
Mit im Schnitt 37 Krankheitstagen pro Jahr liegen die Pflegebeschäftigten um mehr als zwei Wochen über dem Durchschnitt. Bei den Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen belegt die Pflege den ersten Platz. Nur 22 Prozent der hier Beschäftigten glauben, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Käme es zu noch längeren täglichen Arbeitszeiten, wäre die Qualität der Patientenversorgung in Gefahr. Fehler, im schlimmsten Fall bedrohliche, dürften zunehmen. Und langfristig würde sich die Mangellage obendrein verschärfen. Denn „Beschäftigte werden aus Bereichen mit gesundheitlich stark belastenden und die Teilhabe am sozialen Leben einschränkenden Tätigkeiten in solche mit angenehmeren Bedingungen abwandern“, erwartet der Forscher. Insofern seien die geforderten Änderungen des Arbeitszeitrechts „dysfunktional“.
Auch für die Gleichstellung der Geschlechter erwartet Seifert negative Folgen. Längere Arbeitszeiten würden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter erschweren, was wiederum eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern begünstige. Konkret: Bei längeren Arbeitszeiten könnten Männer ihren Anteil an der Sorgearbeit reduzieren und Frauen hätten es noch schwerer, aus der Teilzeitfalle auszubrechen.
Dies kollidiere mit der Fachkräftestrategie der Bundesregierung(Öffnet in einem neuen Fenster), die die Frauenerwerbstätigkeit ausweiten will, mahnt der Forscher.
Zahlreiche Tarifverträge sehen Arbeitszeit-Korridore vor und insbesondere mitbestimmte Großunternehmen verfügen ganz überwiegend über Arbeitszeitkonten. Hinzu kommt, dass nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Jahr 2023 insgesamt 554 Millionen bezahlte und noch einmal 775 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet wurden(Öffnet in einem neuen Fenster). Gleichzeitig ist für viele Beschäftigte die psychische Belastung durch ihre Arbeit gestiegen, daraus resultierende Krankheitsbilder verursachen zunehmend mehr Fehltage.
„Das zeigt: Wir brauchen nicht noch mehr Entgrenzung von Arbeitszeiten, sondern Reformen, die auch den Beschäftigten einen größeren Anteil an der `Flexibilitätsrendite´ bringen(Öffnet in einem neuen Fenster)“, sagt Dr. Yvonne Lott, Arbeitszeitexpertin der Hans-Böckler-Stiftung. Anforderungen der Arbeit und private Verpflichtungen und Bedürfnisse verlässlich unter einen Hut bringen zu können, sei unerlässlich für Gesundheit und Leistungsfähigkeit.
„Arbeitgeber wollen gute Mitarbeiter gewinnen und im Unternehmen halten. Das gelingt nur, wenn sie auch auf deren Bedürfnisse eingehen – und zum Beispiel Möglichkeiten für zeitweilige Anpassungen der Arbeitszeit bieten und für ausreichend Personal sorgen, damit Vertretungen wirklich klappen. Es liegt also auch im Interesse der Unternehmen, die Arbeit so zu organisieren, dass Mitarbeiter nicht überfordert werden“, so Lott.
Dabei weist die Forscherin auf ein Problem hin: Flexible Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit helfen dabei, Berufstätigkeit und Familie besser zu vereinbaren. Doch sie können zum Problem für die Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt werden, wenn sie nur von bestimmten Beschäftigtengruppen genutzt werden und gleichzeitig negative Konsequenzen für das berufliche Fortkommen haben.
Erst wenn flexible Arbeitszeiten unabhängig von Geschlecht, Qualifikation oder Hierarchiestufe zur Normalität würden, ließen sich Nebenwirkungen wie die Verstärkung sozialer Ungleichheiten abstellen. Die nun vom Kabinett beschlossenen Regelungen zur Brückenteilzeit seien vor diesem Hintergrund zu begrüßen und ein wichtiger und überfälliger Schritt für eine moderne Arbeitszeitpolitik, sagt Lott.
2012 schon haben wir in der Hans-Böckler-Stiftung im Forschungsprojekt „Soziales Recht der Arbeit“(Öffnet in einem neuen Fenster) untersucht, welche arbeits- und sozialrechtlichen Maßnahmen ergriffen werden müssten, damit Arbeit besser zum Leben passt.
Außerdem sind die Maßnahmen auch geeignet, die Demokratie weiter zu schwächen, analysieren Lott und weitere Forschende. Umfragen des WSI belegen, dass viele Beschäftigte bereits heute zu wenig Zeit für politisches oder gesellschaftliches Engagement haben.(Öffnet in einem neuen Fenster) Nur ein gutes Drittel der Erwerbstätigen ist im gewünschten Maß aktiv, unter erwerbstätigen Müttern sogar lediglich 20 Prozent. Eine funktionierende Demokratie brauche aber Demokrat*innen, die Zeit für politische und zivilgesellschaftliche Beteiligung aufbringen.
Vier-Tage-Woche
Die Debatte über die Vier-Tage-Woche hat viel Aufmerksamkeit erhalten. Pilotprojekte in Großbritannien(Öffnet in einem neuen Fenster) haben positive Zwischenergebnisse gezeigt, bei denen Arbeitnehmer*innen mit verkürzter Arbeitszeit produktiver, weniger gestresst und seltener krank waren. Eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung, durchgeführt von WSI-Arbeitszeitexpertin Yvonne Lott und Eike Windscheid (Abteilung Forschungsförderung) ergab, dass auch in Deutschland viele Arbeitnehmer*innen eine verkürzte Arbeitswoche unter bestimmten Bedingungen begrüßen würden.(Öffnet in einem neuen Fenster)
Die Studie basierte auf einer Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Sie untersuchte, ob sich Vollzeiterwerbstätige eine Vier-Tage-Woche wünschen und aus welchen Gründen. Das Kernergebnis war, dass rund 81 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen eine Vier-Tage-Woche mit entsprechend geringerer Wochenarbeitszeit befürworten. Knapp 73 Prozent gaben an, eine Arbeitszeitverkürzung nur bei gleichem Lohn zu wollen. Acht Prozent der Erwerbstätigen wären auch bereit, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, wenn dadurch das Entgelt geringer ausfallen würde. 17 Prozent der Teilnehmer*innen würden eine Vier-Tage-Woche ablehnen, während zwei Prozent bereits ihre Vollzeittätigkeit auf vier Tage verteilt haben.
Die große Mehrheit, die sich eine Vier-Tage-Woche wünscht, möchte mehr Zeit für sich selbst und die Familie haben. Auch Hobbys, Sport und Ehrenamt sind hierbei wichtige Faktoren. „Zeit für Muße hat damit einen besonderen Stellenwert für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität von Demokratie.“ Politik, Sozialpartner und Betriebe sollten das Vier-Tage-Modell in Erwägung ziehen „als Instrument zur Behebung des Fachkräftemangels, zur Stabilisierung von Sozialkassen, zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie zur Gesunderhaltung von Beschäftigten“, resümieren Lott und Windscheid.
Die damalige Wissenschaftliche Direktorin unseres Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) Johanna Wenckebach, mittlerweile Juristin im Vorstand der IG Metall und Professorin für Rechtswissenschaften, insb. Arbeitsrecht(Öffnet in einem neuen Fenster), meint dazu in unserem Newsletter HANS(Öffnet in einem neuen Fenster):
"Die Norm der langen Vollzeit führt nachweisbar zu Diskriminierung und schließt Menschen von Erwerbsarbeit aus. So gehen uns Fachkräfte verloren und zugleich brennen andere aus. Einiges hat sich seitdem weiterentwickelt, zum Beispiel wurde das Recht auf Brückenteilzeit geschaffen und Pflegezeit besser ermöglicht. Aber viele bereits seit langem identifizierte Handlungsbedarfe, etwa die Gender Gaps bei Sorgearbeit und Arbeitszeit, bleiben bestehen. Manches hat sich sogar zugespitzt, wie die Verdichtung von Arbeit durch Digitalisierung oder der Handlungsbedarf angesichts der sozial-ökologischen Transformation."
Schon seit etwa 150 Jahren kämpft die Arbeiterbewegung für kürzere Arbeitszeiten.(Öffnet in einem neuen Fenster) Damals waren die Arbeitsbedingungen natürlich vollkommen andere als heute. Wir haben uns auch in unserem Podcast “Geschichte wird gemacht” die aktuelle Diskussion über unsere tägliche Arbeitszeit mal genauer angeschaut.(Öffnet in einem neuen Fenster) Wie kam es eigentlich dazu, dass wir in der Regel höchstens acht Stunden am Tag arbeiten? Und wie lang oder kurz werden unsere Arbeitstage wohl in Zukunft sein?
Die Forderung aus Politik und Wirtschaft, den Acht-Stunden-Tag aufzuweichen, ist nicht neu. Ebenso wie der Wunsch vieler Beschäftigter, weniger zu arbeiten, um Beruf und Familie besser in Einklang bringen zu können oder einfach nur mehr Zeit für sich zu haben.(Öffnet in einem neuen Fenster)
Jedoch müssen auch die Arbeitsmenge und die Arbeitsabläufe angepasst werden. Ansonsten könne sich eine Arbeitszeitverkürzung negativ auf die Motivation und das Wohlergehen der Beschäftigten auswirken. Für eine wirkungsvolle Umsetzung brauche es „verbindliche Vertretungsregelungen, mehr Personal sowie eine angepasste Arbeitsorganisation“. Ein weiterer wichtiger Punkt: Mehr und verlässliche öffentliche Kinderbetreuung ist den Forschenden zufolge auch dann nötig, wenn künftig deutlich mehr Beschäftigte vier Tage die Woche arbeiten.
Überstunden
Dem statistischen Bundesamt zufolge haben 2021 4,5 Millionen Menschen in Deutschland Überstunden gemacht(Öffnet in einem neuen Fenster) – ca. 12 Prozent der Arbeitnehmenden. Im Durchschnitt machen Vollzeit-Arbeitende 3 bezahlte und 2,4 unbezahlte Überstunden; hochgerechnet ergibt sich damit ein Milliardenbetrag an geleisteten Überstunden.
Die meisten unbezahlten Überstunden machen laut einer Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben und Beamte im höheren Dienst, die meisten bezahlten Überstunden werden dagegen von Werkmeister*innen und Facharbeiter*innen geleistet. Wird aber auf Arbeitnehmende mit einfacher Tätigkeit geschaut, sinkt die Zahl bezahlter Überstunden wieder drastisch. Das zeigt eine bestehende Ungerechtigkeit.
Im April 2024 forderte die FDP, steuerliche Anreize für Mehrarbeit zu schaffen und damit den Menschen "Lust auf Überstunden" zu machen. Insgesamt würde allerdings nur eine sehr kleine Gruppe von Christian Lindners Reformvorschlag profitieren: diejenigen, die ohne Arbeitszeitkonto arbeiten und für Überstunden bezahlt werden. Alle, die mit Arbeitszeitkonto flexibel Überstunden ausgleichen oder gar nicht erst für ihre Überstunden bezahlt werden, sind von der Reform nicht betroffen. Das würde sich nur durch eine strukturelle Änderung des Arbeitsmarktes weg von Arbeitszeitkonten ändern. Diese jedoch sind sowohl für Arbeitnehmende als auch für Arbeitgebende praktisch und sinnvoll.
Außerdem muss in der Überstundendebatte auch die Gleichstellungspolitik mitgedacht werden: Sollten Steuerrabatte für Vollzeitbeschäftigte eingeführt werden, würde diese Reform viele in Teilzeit arbeitende Frauen ausschließen. In vielen Familien würde das einen Anreiz entstehen, dass der vollzeitarbeitende Vater mehr, die teilzeitarbeitende Mutter dafür aber weniger arbeitet, da es steuerlich begünstigt werden würde.
Regelmäßige Überstunden sind nicht die Lösung für den Fachkräftemangel: Konzentration und Produktivität lassen mit den zusätzlichen Stunden nach, das Risiko für Fehlentscheidungen und Unfälle am Arbeitsplatz steigt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie leidet.
Weitere Informationen zu Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung
Auf einen Blick: Studien zu Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit
Arbeitszeiterfassung
Das Bundesarbeitsministerium hat im April 2022 einen Entwurf für eine neue gesetzliche Regulierung der Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Das Ziel ist es, klare Grenzen in der digitalen Arbeitswelt zu setzen, eine angemessene Vergütung für jede geleistete Arbeitsminute sicherzustellen und den Beschäftigten ein Instrument zur Durchsetzung ihrer Rechte an die Hand zu geben.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits 2019 betont, dass Arbeitnehmer ein Recht auf Gesundheit und gerechte Bezahlung haben. Um sich vor überlangen Arbeitszeiten zu schützen, müssen diese erfasst werden. Daher hat der EuGH entschieden, dass Arbeitgeber ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" zur Erfassung der Arbeitszeit bereitstellen müssen. Übermäßig lange Arbeitszeiten können zu Krankheit führen, und Überstunden erhöhen das Risiko von Unfällen. Zudem geht es bei der Debatte auch um finanzielle Aspekte: Wenn es zu Streitigkeiten über die Bezahlung von Überstunden kommt, müssen Arbeitnehmer*innen ihre geleistete Arbeit über die vertraglichen Verpflichtungen hinaus nachweisen können. Das geht nur, wenn Arbeitszeit auch erfasst wird.
Die geplante gesetzliche Regulierung der Arbeitszeiterfassung zielt darauf ab, diese Probleme anzugehen und den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, ihre Rechte effektiv durchzusetzen. Sie schafft Transparenz und Fairness in Bezug auf die Arbeitszeit und die Vergütung von Überstunden. Durch die genaue Erfassung der Arbeitszeit wird auch die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz besser geschützt. Über die Arbeitszeiterfassung spricht die ehemalige HSI-Direktorin Johanna Wenckebach im Magazin Mitbestimmung.
Weitere Informationen
HANS. Böckler News 14/2023: Arbeitszeit-Debatte – Es geht um unsere Lebenszeit